Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
Akureyri.
»Aha, die Presse ist auch schon da!«, sagte sie und lächelte Ísrún zu. »Sie bekommen jetzt keine Infos von uns. Vielleicht geben wir heute Abend noch eine Pressemeldung raus.« Ihrem Gesicht nach zu schließen, war damit eher nicht zu rechnen.
Ísrún wusste, dass die Kamera lief, und machte unverdrossen weiter:
»Wie ist der Stand der Ermittlungen?«
»Zurzeit nichts Neues«, sagte Helga.
»Haben Sie neben Svavar Sindrason noch weitere Personen verhört?«
Helga stutzte.
»Wir haben mit sehr vielen Leuten gesprochen. Im Moment steht noch niemand unter Verdacht.«
»Hat der Arzt Ríkharður Lindgren etwas mit dem Fall zu tun?«
»Ganz sicher nicht«, antwortete Helga mit Nachdruck.
Ísrún wollte nach Elías’ Wohnung in Akureyri fragen, aber Helga ließ sie nicht zu Wort kommen. »Das reicht fürs Erste.«
Ísrún war zu müde, um zu protestieren.
30 . Kapitel
Ein Sommerabend in Siglufjörður.
Jónatan schaute aus dem Fenster, kaum jemand unterwegs. Hoffentlich hatte das Kreuzfahrtschiff abgelegt und die Touristen mitgenommen. Die Veränderungen im Ort gefielen ihm nicht; Bautätigkeiten, Cafés und Restaurants, ein neuer Tunnel. Mit dem Frieden war es vorbei. Dieser Tunnel war ein wahrer Fluch. Das friedliche Leben und die Abgeschiedenheit waren dahin.
Der Besuch des Polizisten machte ihm immer noch zu schaffen.
Jónatan vermied es tunlichst, an die Vergangenheit zu denken. An seine Eltern und die »gute«, alte Zeit.
Die Gewalt, in ihrer reinsten Form.
Gegen ihn selbst und gegen die anderen Jungen, obwohl er ein paar Jahre älter gewesen war als sie.
Die Ursache für die Gewalt war schwer auszumachen.
Machtgier?
Eigentlich waren die Machtverhältnisse klar gewesen.
Das Bedürfnis, seine eigene Macht zu demonstrieren?
Obwohl er Opfer und nicht Täter gewesen war, fühlte er sich auf gewisse Weise verantwortlich. Vor allem danach, als er über alles geschwiegen hatte.
Er hatte gehofft, dass das alles vergessen und erledigt wäre.
Jetzt hatte er den Verdacht, dass dem doch nicht so war.
Der arme Elli.
Jónatan konnte nur hoffen, dass diese längst vergangenen Ereignisse nicht zu seinem Tod geführt hatten.
Das wäre eine schwere Bürde.
Zwischenspiel
Etwas früher im selben Sommer
Ein kleiner Junge stand am Straßenrand. Er trug eine Art Schuluniform, ein weißes Hemd und eine graue Hose mit einem bunten Gürtel und einer gestreiften Krawatte. Er hatte eine Digitaluhr am Handgelenk, seine Schultasche stand neben ihm. Er presste die Hände zusammen wie beim Beten und legte sie dabei über seinen Mund und seine Nase. Vielleicht hielt er die Hände so, um sich vor dem Staub und der allgegenwärtigen Luftverschmutzung zu schützen? Vielleicht dachte er auch nur nach – oder betete.
Die Umgebung war ziemlich trist, neben der Schotterstraße lag eine kleine Wiese, aber bei den Häusern gab es nur Sand und Kies. Das Gras war noch nicht so grün, wie Elías es von Island her kannte, sondern das Grün ging ins Graue.
Elías saß auf dem Rücksitz eines klapprigen Taxis im Stau, starrte aus dem Fenster und wartete. Er schaute dem Jungen direkt in die Augen, bis der den Blick senkte. Hinter ihm standen zwei Ziegelsteinhäuser, in einem befand sich ein Lebensmittelladen, Konservendosen füllten das große Fenster, und am Haus hing ein Schild mit einer knalligen Seifenwerbung. In der Ladentür wartete eine ältere Frau auf Kundschaft. Kisten und Säcke stapelten sich vor dem Laden. In dem anderen Ziegelsteinhaus wurde Malerbedarf verkauft, und davor stand ein altes Motorrad.
Elías dachte nicht zum ersten Mal darüber nach, ob diese Reise der Mühe wert war. In ein fernes Land zu reisen, um einen dubiosen Auftrag für zwielichtige Leute auszuführen.
Er war noch nie außerhalb Europas gewesen, fuhr meistens im Sommer in den Süden, um zwei, drei Wochen zu relaxen und Bier zu trinken. Das war das wahre Leben. Nicht diese Plackerei zu Hause in Island.
Er wusste genau, dass er durch die Leute, mit denen er sich zusammengetan hatte, reich werden konnte. Erst dieser Auftrag und danach etwas Größeres. Er durfte sich nur nicht über den Tisch ziehen lassen. Musste die Augen überall haben.
Jetzt hatte er die Chance bekommen, sich zu bewähren. Er hatte Svavar schon von seinen neuen Bekannten erzählt und wollte ihn gerne dabeihaben. Er konnte sich sogar vorstellen, den Kreis der Eingeweihten zu erweitern, einen könnten sie noch gebrauchen, wenn die Aufträge zunahmen.
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