Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
Haus, die Ländereien, die Bank – an allem hatte der Zahn der Zeit genagt, nicht zuletzt an dem alten Mann selbst. Er betrachtete das Gras, während er redete, schaute Ari nie in die Augen.
»Sie glauben also, dass der Mörder den falschen Mann erwischt hat? Dass er eigentlich dieses Schwein von Arzt umlegen wollte?«, fragte er Ari mit belegter Stimme.
»Vielleicht. Ich weiß es natürlich nicht genau.«
»Das wird ihm nie vergeben«, sagte der Alte nachdrücklich. »Und das sage ich als gottesfürchtiger Mann. Er hat betrunken gearbeitet. Ich vermisse meine Frau jeden Tag. Besonders an sonnigen Tagen wie heute. Wissen Sie, eigentlich war sie meine Sonne«, sagte er mit leiser Stimme. Er hatte keine Eile.
»Hatten Sie nach der Sache noch Kontakt zu diesem … Ríkharður?«, fragte Ari.
»Nein, das wollte ich nicht«, antwortete der alte Mann niedergedrückt. »Er wurde verurteilt, uns eine Entschädigung zu zahlen.« Er seufzte. »Was soll ich denn mit einer Entschädigung?«
Ari musste zugeben, dass es schwer vorstellbar war, dass dieser bedächtige Mann einen Mord begangen hatte – geschweige denn einen so brutalen Mord.
»Wissen Sie, ob er jemals bedroht wurde?«
»Nein, mein Freund, ich habe keine Ahnung. Dabei habe ich ihm selber im Geiste Rache geschworen. Habe meiner Phantasie freien Lauf gelassen, mir Dinge vorgestellt, von denen ich dachte, ich würde sie im Nachhinein bereuen, aber nichts da. Meine Frau hatte etwas Besseres verdient. Sie war immer so herzlich und gut, still und nachdenklich, viel intelligenter als ich. Sie war die Philosophin in der Familie, hatte den Sinn des Lebens gefunden. Glaubte sie zumindest. Ihre Theorie war, dass es auf diese Frage keine allgemeingültige Antwort gibt, mein Freund. Wir müssen alle, jeder für sich, den Sinn finden. Herausfinden, was uns glücklich macht. Gott sei Dank. Wenn alle Kinder Gottes nur ein Ziel hätten, würden ja alle dasselbe tun. Das wäre doch eine recht eintönige Welt, nicht wahr?« Der Mann betrachtete immer noch das Gras, schien aber froh zu sein, über seine verstorbene Frau reden zu können.
»Ich muss jetzt wieder los«, sagte Ari schließlich und stand auf. Er wusste genau, was – oder vielmehr wer – ihn glücklich machen würde. Aber er hatte seine Chance verspielt. Er bekam Kristín nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte immer gehofft, dass sie wieder zusammenkämen, aber jetzt fürchtete er, dass es endgültig aus und vorbei war, dass er verloren hatte. »Danke für das Gespräch.«
»Danke für den Besuch. Schade, dass er … dieser Tote … nicht Ríkharður war. Das wäre sehr … erfreulich gewesen.«
28 . Kapitel
Die Besprechung in Akureyri ging mehr oder weniger an Ari vorbei. Er saß am Tisch, versuchte zuzuhören und dachte dabei die ganze Zeit an Kristín. Er trank wässrigen Kaffee, weil es keinen Tee gab, und knabberte an dem Gebäck, das auf dem Tisch stand.
Immerhin bekam er mit, wie eine junge Frau namens Helga von der Kripo Akureyri berichtete, Elías sei kurz vor seinem Tod nach Asien, genauer gesagt nach Nepal gefahren, mit kurzem Zwischenstopp auf dem Kopenhagener Flughafen. Zunächst hatte man angenommen, er habe nur ein paar Tage in Dänemark verbracht. Genauere Erklärungen für diese Reise lagen nicht vor.
Die Atmosphäre in dem großen Besprechungsraum war alles andere als entspannt. Der Mord hatte für großes Aufsehen gesorgt, und die Presse machte Druck.
Ari konnte sich kaum mehr erinnern, was der alte Mann auf dem Bauernhof ihm erzählt hatte, so sehr hatte ihn die Nachricht über Kristín und den neuen Mann in ihrem Leben geschockt. Seine Theorie über Ríkharður Lindgren hatte er jedoch fast verworfen. Zumindest vorübergehend. Dieser alte Mann war jedenfalls kein Mörder.
Ari versuchte, das Meeting zu verfolgen, und seine Eifersucht im Zaum zu halten. Er hatte es nicht immer geschafft, sie zu kontrollieren. Wie alt war er damals gewesen? Siebzehn? Achtzehn? Er hatte sich mit einem Mädchen im gleichen Alter, das auf einer anderen Schule war, getroffen. Hatte gedacht, er sei verliebt. Die Beziehung hielt drei Wochen und endete mit einem Ausraster bei einer Party. Das Mädchen war schon früher hingegangen, und Ari wollte später vorbeischauen und sie überraschen. Vorher ging er noch zu einer anderen Party mit seinen eigenen Klassenkameraden, trank etwas zu viel Bowle und nahm dann ein Taxi, um seine Freundin zu treffen. Er erinnerte sich noch genau an das Haus. Ein schickes
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