Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
hatte versprochen, anzurufen oder einen Brief zu schreiben, sobald sie die Gelegenheit dazu hätte. Ihre Eltern würden bestimmt erst in einer oder mehreren Wochen anfangen sich zu wundern. Dann wäre sie längst tot.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ohne Essen und Trinken überleben konnte. Das hatte sie nicht in der Schule gelernt. Doch sie spürte, wie ihre Kräfte mit jeder Minute schwanden.
Am Anfang hatte die Angst vor dem Eingesperrtsein sie gelähmt. Sie befand sich in der Gewalt eines fremden Menschen. Konnte nicht raus, an die frische Luft, die Sonne genießen. Das Gefühl war unbeschreiblich schmerzlich. Anfangs bekam sie kaum Luft, wäre vor Angst fast ohnmächtig geworden. Doch nach und nach konnte sie wieder gleichmäßig atmen. Sie versuchte, an etwas Schönes zu denken. An einen hellen Sommertag zu Hause bei ihren Eltern.
Dann rief sie um Hilfe, so laut sie konnte, doch niemand hörte sie. Sie ruhte sich kurz aus, sammelte Energie und rief dann weiter. Als sie das erste Mal in ihrem Verlies einschlief, hatte sie fast keine Stimme mehr.
Inzwischen hatte sie das Schreien längst aufgegeben. Ihre Stimme war weg.
Sie brachte kaum noch ein Wort heraus, und ihre Zunge war ganz trocken.
Sie musste noch ein bisschen durchhalten, sich wach-halten, obwohl sie am liebsten nur noch geschlafen hätte.
2 . Kapitel
Ísrún war früh aufgewacht und stand jetzt vor einem alten, heruntergekommenen Einfamilienhaus in Akureyri.
Das nächste Haus war ein Stück entfernt, und es gab nicht viel zu sehen. Im Erdgeschoss hatte sich mal ein Gewerbe befunden, ein Geschäft oder eine Firma, aber die großen Fenster waren zugenagelt. Elías’ Wohnung musste im ersten Stock sein. Nichts rührte sich, und alle Vorhänge waren zugezogen.
Ein Schauer durchfuhr Ísrún. Das war kein Haus, in dem sie gerne gewohnt hätte. Fast wie ein Geisterhaus. Die Wohnung würde sich bestimmt schwer verkaufen lassen, vor allem jetzt, mitten in der Wirtschaftskrise. Vielleicht hatte Elías sie deshalb nicht von seiner Frau, oder besser gesagt von deren Firma, auf seinen Namen umschreiben lassen.
Ísrún überlegte, ob sie um das Haus herumlaufen, es genauer unter die Lupe nehmen und abchecken sollte, ob sie in die Wohnung gelangen könnte. War es weniger verwerflich, in eine Wohnung einzudringen, deren Besitzer tot war? Zumindest konnte er sich nicht mehr darüber beklagen.
Sie zögerte, ließ es dann aber bleiben. Die Vorstellung, die Wohnung dieses Mannes zu durchsuchen, war ihr zuwider, auch wenn sich dort womöglich nützliche Informationen fanden. Hastig stieg sie wieder in den Wagen, schaute nicht mehr zurück und fuhr zügig nach Siglufjörður.
Svavar hatte in der Nacht schlecht geschlafen.
Auf einmal stand er im Mittelpunkt des Interesses, bekam Besuch von der Polizei und einer Fernsehreporterin, wobei er fand, dass er auf beide gut reagiert hatte. Er hatte sich nicht verplappert, weder Elías verraten, noch sich selbst in die Bredouille gebracht.
Dennoch hatten ihn letzte Nacht Zweifel befallen. Wie lange konnte er noch durchhalten?
Er war zwei- oder dreimal eingenickt, hatte nur kurz geschlafen und war dann schweißgebadet aufgewacht. Dachte immer nur an sie. An eine Frau, die er noch nicht einmal gesehen hatte. Eine Frau aus einem fremden Land, von einem fernen Kontinent.
Er wusste nur, dass sie jung und hübsch war. So hatte Elías sie zumindest beschrieben, wobei er sich unflätiger ausgedrückt hatte. Svavar hatte an fast nichts anderes gedacht, seit er von Elías’ Tod gehört hatte. Die Zeit wurde knapp.
Vielleicht war es schon zu spät.
Er dachte tagsüber an sie, dachte nachts an sie, wenn er nicht einschlafen konnte, und träumte zwischendurch von ihr.
Erst hatte er sich eingeredet, dass er nicht für sie verantwortlich sei, dass er nicht für jeden Menschen auf der Welt verantwortlich sein könne.
Ständig sterben Leute.
Was geht es mich an, wenn heute eine fremde Frau stirbt?
Doch er merkte sofort, wie zynisch das klang. Elías hätte sich bestimmt keine großen Gedanken darüber gemacht. Manchmal verstand Svavar einfach nicht, wie er so gefühlskalt sein konnte. Sie waren ziemlich verschieden, obwohl sie schon lange befreundet waren. Svavar wusste genau, dass Elías seine dunklen Seiten hatte.
Und er war der Erste, der zugegeben hätte, dass er selbst auch kein Engel war. Sein Kumpel und er hatten sich nicht immer auf der richtigen Seite des Gesetzes bewegt. Waren wie echte Kameraden durch
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