Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
nicht zuviel zuzumuten, und fürchtete in jeder Kurve und an jeder Steigung, er würde seinen Geist aufgeben. Die Berge waren sehr nah, direkt an der Straße, und es lag noch Schnee. Am liebsten hätte sie am Straßenrand angehalten, wäre das kurze Stück zu dem Schneefeld am Hang gelaufen, hätte sich in den kalten Schnee gelegt und ihre müden Knochen ausgeruht. In letzter Zeit fiel es ihr so schwer, Zeit zum Entspannen zu finden.
Die Fahrt war zwar lang, aber immer noch besser, als sich das Genöle des Redaktionsleiters anhören zu müssen. Außerdem war es an der Zeit, sich endlich zu rächen. Ein für alle Mal. Und sie war neugierig auf den Fall – was war wirklich mit Elías passiert?
Als die Schotterstraße über den Pass zu Ende war, wurde es nicht besser. Die Straße nach Siglufjörður war zwar asphaltiert, aber für Ísrúns Geschmack immer noch ziemlich gefährlich. Als sie endlich den Tunnel Strákagöng passiert hatte, lag vor ihr der Fjord. Der Ort nahm sie mit offenen Armen in Empfang.
Ísrún wollte den Tag dafür nutzen, mit Elías’ Arbeitskollegen Logi und Páll zu reden und eine Frau zu besuchen, mit der Elías laut Meldeverzeichnis in einem Haus gewohnt hatte. Sie fuhr langsamer, versuchte, sich zu orientieren, und merkte schnell, dass sie schon in der Hvanneyrarbraut war, in der Elías gewohnt hatte. Sie brauchte nicht lange, um das Haus zu finden. Ein hübsches Einfamilienhaus an einem schönen Platz direkt am Fjord. In einem solchen Haus konnte Ísrún sich gut vorstellen zu wohnen, wenn sie irgendwann mal aufs Land ziehen würde. Dann hätte sie gerne einen Blick aufs Meer. Die Nähe des Ozeans war irgendwie beruhigend. Das waren die Gene, das Salzwasser im Blut. Ihr Großvater stammte von den Färöer Inseln und war Seemann gewesen, ebenso wie seine Vorfahren. Dabei interessierte sie sich eigentlich nicht für die Seefahrt, las kaum Meldungen über Fischerei oder Fangquoten. Vielleicht war es das Meer an sich, das sie faszinierte, weniger die Meeresbewohner.
Ísrún drückte auf die Klingel neben dem schnörkelig geschriebenen Namen Nóra Pálsdóttir. Nichts geschah. Sie wartete einen Moment, klingelte dann erneut und klopfte zur Sicherheit auch an. Endlich sah sie eine Regung hinter den hauchdünnen Gardinen in dem kleinen Fenster in der Haustür.
Die Tür ging auf, und die Frau in der Türöffnung lächelte sie an. Mit strahlend weißen Zähnen. Unnatürlich weiß. Sie war um die sechzig und trug ein grellgelbes Kleid.
»Guten Tag, bitte entschuldigen Sie die Verzögerung«, sagte sie.
»Hallo, ich heiße Ísrún. Sind Sie Nóra?«
»Ja, genau.« Sie lächelte wieder breit und zeigte auf den Namen neben der Türklingel. »Nóra Pálsdóttir. Und Sie sind von den Nachrichten, oder?«
Ísrún nickte.
»Treten Sie ein. Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug und die Unordnung. Ich habe heute nicht mit Besuch gerechnet. Ich bin so verstört, seit Elías tot ist, der arme Mann.«
Ísrún trat mit schmutzigen Schuhen ein, hielt nach der angekündigten Unordnung Ausschau, sah aber nur, dass sowohl die Hausherrin als auch das Haus frisch herausgeputzt waren, als wäre mitten im Sommer Heiligabend. Ein intensiver Parfümgeruch stieg Ísrún in die Nase. Sie selbst benutzte kaum Parfüm. Nóra schien sich hingegen diesbezüglich kaum mäßigen zu können.
»Ich bin am Boden zerstört«, sagte Nóra und seufzte theatralisch. »Wirklich am Boden zerstört. Ich kann immer noch nicht glauben, dass das wirklich passiert ist. Bitte nehmen Sie Platz. Ich schaue mal, ob ich etwas im Kühlschrank habe.«
Sie tänzelte aus dem Raum. Ísrún blieb im Wohnzimmer zurück und setzte sich auf den Stuhl, der am bequemsten aussah.
»Ich hoffe, Sie wollen mich nicht in den Nachrichten zitieren«, rief Nóra und fügte noch hinzu, bevor Ísrún antworten konnte: »Aber ich würde es natürlich verstehen. Sie machen ja auch nur Ihre Arbeit. Wie wir alle.«
Nach einem kurzen Moment kam Nóra mit einem verlockenden Schokoladenkuchen aus der Küche.
»Wobei ich nicht mehr arbeite, ich bin Rentnerin. Viel zu früh natürlich! Man könnte sagen, ich hatte eine Eingebung und habe mich in die Wohltätigkeitsarbeit gestürzt. Haben Sie schon mal von der Familienhilfe gehört?«
»Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen zu Elías stellen, wenn das in Ordnung ist«, sagte Ísrún entschieden.
Nóra stellte die Torte auf den Tisch.
»Ich hatte ganz vergessen, dass ich die noch habe. Rumschokoladenkuchen.
Weitere Kostenlose Bücher