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Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)

Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Todesnacht: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ragnar Jónasson
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unter einem Ventilator in dem kleinen Inlandsflughafen, in ihrer besten Bluse, der geblümten, und musterte diesen seltsamen Isländer, der den ganzen weiten Weg gekommen war, um sie abzuholen. Er lief geschäftig durch den Flughafen und schien nicht recht zu wissen, wo es lang ging. Sie hatte ein bisschen Mitleid mit ihm. Es war nicht leicht für einen Ausländer, herauszufinden, wo und wann das Flugzeug nach Kathmandu abflog. Währenddessen hatte sie am Fenster gestanden und die landenden und abfliegenden Flugzeuge beobachtet. Dies war ihre erste Flugreise. Fliegen war teuer. Ein Luxus, den sich ihre Familie nicht leisten konnte.
    Sie konnte es kaum glauben, dass sie diese Chance bekam – nach Island zu ziehen. Es war bestimmt kalt dort, aber die Arbeit war gut bezahlt. Sie fand es aufregend, nach Europa zu reisen, aber sie fürchtete sich auch ein wenig. Vermisste ihre Familie schon jetzt. Dabei nahm sie das alles in erster Linie für ihre Familie auf sich, wollte ihren Angehörigen eine gute Zukunft sichern.
    Die Jobbeschreibung war ziemlich konkret gewesen. Dienstleistung in einem großen Hotel. Das klang wirklich gut. Kost und Logis inbegriffen. Vielleicht konnte sie ihren gesamten Lohn beiseitelegen. Zum Glück konnte sie etwas Englisch. Darüber waren sie auf sie aufmerksam geworden, auf einer Internetseite, wo sie sich als arbeitssuchend eingetragen hatte. Der Isländer versicherte ihr jedoch, dass sie für den neuen Job nicht viele Englischkenntnisse brauche. Dann grinste er.
     
    Das kleine Flugzeug war sehr voll. Wieder überkam Elías dieses unangenehme Gefühl. Hoffentlich würde er das überleben. Andererseits war er froh, vom Land zurück in die Hauptstadt zu kommen.
    In der dünn besiedelten Gegend, in der das Mädchen wohnte, hatte er plötzlich an den Bauernhof in Island denken müssen. Den Hof im Skagafjörður, auf dem seine Kindheit die pure Hölle gewesen war.
    Im ersten Sommer hatte er sich noch darauf gefreut, aufs Land zu fahren, da war er sechs Jahre alt gewesen. Doch der Traum war schnell zum Albtraum geworden.
    Am Anfang waren es nur verbale Erniedrigungen gewesen, weder lustig noch ironisch, sondern einfach nur gehässig.
    Die Beschimpfungen waren heftiger geworden. Dann befiel ihn der Verdacht, dass alle Päckchen von seinen Eltern aus Reykjavík gestohlen wurden. Die körperliche Gewalt ließ nicht lange auf sich warten.
    Die Schläge an sich waren nicht so schlimm, und man achtete sorgfältig darauf, dass sie keine sichtbaren Spuren hinterließen. Nein, über das Schlimmste konnte er nicht reden. Er hatte nie darüber geredet. Im Grunde war es unbeschreiblich, wie die Gewalt in ihrer Schlichtheit die brutalste Form annahm. Die Jungen redeten noch nicht einmal untereinander darüber, dabei war er sich sicher, dass sie alle dasselbe ertragen mussten. Selbst Jónatan, der jüngste Sohn des Ehepaars, der ein paar Jahre älter war als Elías. Er war wahrscheinlich derjenige, der am meisten ertragen musste. Er konnte im Herbst nicht zurück in die Stadt fahren.
    Nach dem ersten Sommer ging Elías wieder zur Schule, körperlich und seelisch gebrochen. Doch er tat so, als sei nichts geschehen. Die Drohungen waren sehr eindringlich gewesen. Drohungen gegen ihn und seine Familie, Drohungen, dass seinen Eltern alle möglichen »Unfälle« zustoßen würden. Er musste zwei Dinge versprechen: nie darüber zu reden, was in jenem Sommer passiert war, und im nächsten Sommer wiederzukommen. »Wir können es uns nicht leisten, euch Jungs im Sommer nicht aufzunehmen.«
    Außerdem wollte er einfach nicht über die Vorfälle auf dem Land sprechen. Er schämte sich für das, was passiert war. War sich sicher, dass er schuld daran war. Auch später redete er nicht darüber, musste selbst mit dieser Erfahrung klarkommen, war sich aber im Nachhinein nicht sicher, ob ihm das gelang.
    Den ganzen Winter über hatte er Angst vor dem Sommer. Nachts schlief er schlecht, wachte manchmal schweißgebadet auf, zitternd und verängstigt. Seine Eltern verstanden gar nichts, aber er brach sein Versprechen nicht. Erzählte niemandem davon. Als der Frühling kam und die Dunkelheit von der höher stehenden Sonne verdrängt wurde, sagten seine Eltern, sie hätten nun alle Vorkehrungen für den Sommer getroffen. Er werde auf denselben Hof fahren. »Freust du dich, Elli?« Freuen? Seit dem ersten Sommer hatte er dieses Gefühl nicht mehr verspürt. Hatte sich auf gar nichts gefreut, weder auf den Sommer noch auf den Winter,

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