Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
weder auf Weihnachten noch auf seinen Geburtstag. Die Angst war immer stärker. Sie lag manchmal auf ihm wie ein Albtraum.
Er schaffte es, einen weiteren Sommer an diesem Ort zu überleben. War sich nicht sicher, wie er das gemacht hatte. Die Gruppe aus dem letzten Jahr hatte sich etwas verkleinert, dafür waren zwei neue Jungen hinzugekommen. Elías hätte sie am liebsten gewarnt. Ihnen gesagt, sie sollten weglaufen, zurück nach Hause fahren, bevor es zu spät sei. Die Gewalt fing wieder an, in derselben Form wie vorher. Doch diesmal ging alles noch schneller. Die Jungen wurden bei der geringsten Kleinigkeit bestraft. Es war unmöglich, alle Regeln zu befolgen, die nur in einem kranken Hirn existierten.
Nach diesem Sommer hatte Elías jeglichen Lebenswillen verloren. Etwas in seinem Inneren war gestorben. Als im nächsten Sommer die Fahrt in den Norden näherrückte, wurde er plötzlich krank. Lag tagelang im Bett, schwach und blass. Der Arzt hatte Schwierigkeiten, eine genaue Diagnose zu stellen. Es gab einfach keine zufriedenstellende Erklärung. Elías erholte sich im Lauf des Sommers, doch dann war es zu spät, ihn noch aufs Land zu schicken, zumal der Arzt ihn lieber in der Stadt haben wollte, um seinen Zustand kontrollieren zu können. Danach vergingen Jahrzehnte, bevor er wieder in den Skagafjörður fuhr. Als er schließlich hinkam, war es, als sei das alles in einem anderen Leben und einem ganz anderen Jungen passiert. Die einzige Emotion, die er verspürte, war Hass. Das Bedürfnis nach Rache. Doch es war schwer, sich an einem Täter zu rächen, der längst unter der Erde war.
Deshalb rächte er sich auf andere Weise.
Sie fuhren vom Flughafen direkt zum Hotel. Mussten eine Nacht in Kathmandu übernachten. Elías hatte für sich eine Suite gebucht – in diesem Teil der Welt bekam man trotz der Abwertung der Krone noch viel für sein Geld – und für sie ein kleines Einzelzimmer. Das Hotel war prachtvoll, die Einrichtung hochwertig und luxuriös und das Personal zuvorkommend. Er fühlte sich wohl. Das Mädchen sagte nicht viel, war dankbar und bescheiden. Er sagte ihr, sie würden am Abend zusammen essen, er war ihr zwar nichts schuldig, hatte aber keine Lust, alleine zu essen. Und schließlich war sie jung, noch keine zwanzig, und sehr hübsch.
Als sie im Hotel angekommen waren, legte er sich erst hin und machte danach einen Spaziergang durch die Innenstadt. Die Menschenmassen waren erschlagend. Lärm, Stimmengewirr und enge Gassen, so dass es manchmal schwierig war, vorwärtszukommen. Überall hingen bunte Schilder, meist Werbung für Restaurants, Wäschereien, Internet- und Telefonanbieter.
Wieder wanderten seine Gedanken nach Island. In den Skagafjörður. Nach Siglufjörður.
Er hatte nicht gezögert, als man ihm den Auftrag am Héðinsfjörður-Tunnel angeboten hatte, obwohl er dann in Siglufjörður wohnen musste. Dort wollte er das große Geschäft machen. Er brauchte gute Einnahmen, um aus Island wegzukommen – dauerhaft. Vorher hatte er in Akureyri gewohnt und die Nähe zum Skagafjörður machte ihm eigentlich nichts aus.
Erst, als er schon ein paar Monate in Siglufjörður gewohnt hatte, stellte er fest, dass Jónatan, der Sohn der Bauern, dort wohnte. Der Einzige von den Geschwistern, der im Norden lebte. Er sah ihn manchmal von weitem, sprach ihn aber nie an. Im Grunde hatten sie sich nichts zu sagen. Sie teilten das Leid der vergangenen Jahre, die jetzt so fern waren. Jónatan sah nicht gut aus. Er war frühzeitig gealtert, humpelte, hatte ein ausgemergeltes Gesicht und einen krummen Rücken.
Da hatte sich Elías viel besser gehalten.
Vielleicht hatte er die Sommer auf dem Land ja einigermaßen unbeschadet überstanden.
Elías konnte sich nur schwer an den niedrigen Tisch im Hotelrestaurant gewöhnen, er hockte im Schneidersitz auf einer Art Kissen. Das Mädchen saß ihm gegenüber und kam besser damit klar. Er hatte sechs Gerichte bestellt, die der Kellner besonders empfohlen hatte. Obwohl die Speisekarte auf Englisch war, hatte Elías große Schwierigkeiten zu erraten, was er zu essen bekäme: eine Suppe als Vorspeise, ein Reisgericht, ein würziges Hühnchen, ein Pudding als Nachspeise, und dann noch etwas, das ihm überhaupt nichts sagte.
Während des Essens sprachen sie nicht miteinander. Sie schien sich nicht zu trauen, etwas zu sagen, und er hatte kein Interesse daran, sie kennenzulernen. Wollte sie nur nach Island bringen, wo ein schlimmes Schicksal sie
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