Todesnähe
Er sah aus wie eine Gottesanbeterin beim Bergsteigen. Oben angekommen, verbeugte er sich vor dem Chief, wie immer befangen und unsicher, solange er nicht wusste, was die Höflichkeit genau erforderte. «Mein Name ist Roadrunner.»
Der Chief nickte, gab ihm die Hand und betrachtete mit gerunzelter Stirn die verunstalteten Finger. «Das sieht ja aus, als hätten Sie sich mit einer größeren Maschine angelegt. Ein Unfall beim Ernten?»
Roadrunner sah auf. «Nein. Ein Adoptivvater mit einem Vorschlaghammer.»
Die schmalen Lippen des Chiefs wurden noch schmaler, als er Roadrunner in die Augen sah. «Haben Sie ihn getötet?»
«Nein. Ich bin weggelaufen.»
«Wie alt waren Sie?»
«Acht.»
«Sehr klug.» Der Chief nickte. «Aber inzwischen sind Sie ja älter. Sie sollten ihm mal selbst einen Besuch mit einem Hammer abstatten.»
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KAPITEL 44
S ie saßen alle um den großen Tisch im Esszimmer der Jagdhütte: Magozzi, Gino, der Chief und Claude auf der einen, John und das Monkeewrench-Team auf der anderen Seite. Harley und Roadrunner schaufelten das Essen nur so in sich hinein; Grace und Annie stocherten in ihren Tellern herum, wie Frauen das eben tun, wenn Anspannung ihnen den Appetit verdirbt.
Der Chief nahm Grace ins Visier. «Es ist Ihnen also niemand gefolgt?»
«Nein. Wir waren sehr vorsichtig.»
«Weshalb sind Sie dann so besorgt?»
Einen Augenblick lang dachte sie nach und betrachtete dabei angestrengt ein offensichtlich harmloses Stückchen Toast. «Ich weiß es nicht. Einfach ein Gefühl.»
Seine dunklen, undurchdringlichen Augen wichen nicht von ihr. «Sie spüren eine unsichtbare Gegenwart?»
Mit hochgezogenen Brauen biss Grace in den Toast, der sich im Mund wie Sand anfühlte.
Der Chief ließ nicht locker. «Sie sind sich sicher, dass Ihnen niemand gefolgt ist, und trotzdem spüren Sie eine Gefahr.»
Grace legte den Toast wieder neben das ungegessene Rührei auf ihrem Teller. «Manchmal reagiere ich etwas übertrieben.»
Der Chief musterte sie immer noch, doch seine Gedanken waren bereits woanders. «Wenn ein Unwetter heraufzieht, verkriecht sich der Hase in seinem Bau», sagte er. «Der Vogel fliegt.» Damit stand er auf und ging zur Tür, und die anderen sahen ihm erstaunt nach.
«Er hat eine mystische Ader», erläuterte Claude. «In allem sieht er irgendwelche Zeichen.»
«Aber er ist auch Polizist», setzte Gino hinzu. «Und er verfolgt eine Spur. Wo ist Charlie?»
«Der vertritt sich noch draußen die Pfoten und wässert die Umgebung», sagte Harley.
Kurze Zeit später kam der Chief zurück, ein kleines schwarzes Kästchen in der Hand. «Es verfolgt Sie tatsächlich jemand», stellte er nüchtern fest. «Das war an Ihrem Wagen angebracht, ganz unten am Fahrgestell. Einer dieser neumodischen Peilsender. Sie haben die Verfolger nicht gesehen, weil sie nie nah genug herangekommen sind. Das Ding hier reicht mindestens drei Kilometer weit.»
Annie spürte, wie ihr ein eisiger Schauder über den Rücken lief. Da waren sie so wachsam gewesen, so vorsichtig, und doch hatte sie die ganze Zeit jemand aus ein paar Kilometern Entfernung im Visier gehabt.
Während der Chief im Nebenzimmer ein paar Anrufe machte, sagte Grace leise zu ihren Freunden: «Wir müssen sofort weg.»
Harley stand auf und schob seinen Stuhl dicht an den Tisch. «Auf geht’s.»
Auch Annie stand auf, strich ihr Kleid zurecht und schenkte Claude ein bezauberndes Lächeln. «Es war schön, Mr. Gerlock, aber viel zu kurz.»
«Setzen Sie sich wieder», sagte Claude. «Alle.» Keiner folgte der Aufforderung. Solchen Widerstand war Claude nicht gewohnt. Normalerweise sprangen immer alle, sobald er einen Befehl gab.
Doch Grace ließ sich nun mal nichts befehlen. Sie straffte die Schultern und hielt seinem Blick stand. «Wir sind in Schwierigkeiten, nicht Sie. Wir werden jetzt gehen.»
Claude sah sie kopfschüttelnd an, die Miene ebenso unerschütterlich. «Sie denken nicht richtig nach. Womöglich sind diese Leute bereits hier, verstecken sich da draußen und warten darauf, dass Sie weiterfahren. Das Reservat umfasst mehrere hundert Quadratkilometer. Zahllose Möglichkeiten, irgendwo einen Wagen zu verstecken und zu Fuß durch den Wald zu gehen.»
Grace musste ein Lächeln unterdrücken. Dem armen Kerl war leider ein Denkfehler unterlaufen. «Wenn sie zu Fuß im Wald unterwegs sind, haben wir das Reservat längst wieder verlassen, bevor sie bei ihrem Wagen sind. Und ohne den Peilsender finden sie uns
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