Todesopfer

wiederkommen, wenn im Café weniger Betrieb herrschte, oder mir eine Bibliothek suchen. Also, das war doch eine Idee. Ich hatte Zugang zur besten Bibliothek von ganz Unst, einer Bibliothek, die auf Inselfolklore und Legenden spezialisiert war. Vorausgesetzt, ich konnte den Bibliothekar umschiffen. Ich aß rasch, stand auf und bezahlte.

    Â 
    Ich hatte Glück; Richard war noch immer nicht zu Hause und Elspeth hatte überhaupt nichts dagegen, den ganzen Nachmittag über in Ruhe gelassen zu werden. Gegen fünf Uhr hatte ich mehr über die Geschichte der Shetlands gelernt, als ich jemals hatte wissen wollen. Ich hatte erfahren, dass Wikingerkrieger im achten Jahrhundert hier eingefallen waren, mit den alten heidnischen Religionen Skandinaviens im Reisegepäck. Das Christentum folgte erst zweihundert Jahre später, doch da war der nordische Heidenglaube bereits tief verwurzelt gewesen und hatte sich hartnäckig gehalten. Genau wie die nordische Kultur.
    Obgleich geographisch näher an der Küste Schottlands gelegen, waren die Shetlandinseln bis zum späten fünfzehnten Jahrhundert Teil einer altnorwegischen Grafschaft gewesen. Selbst nachdem die Inseln in schottische Herrschaft übergegangen waren, hatte das Meer sie weiterhin abgeschirmt und einen ganzen Hort von Traditionen bewahrt. Der Dialekt war noch immer stark von altnorwegischen Wörtern durchsetzt, von denen viele adaptiert und den lokalen Sprachgepflogenheiten angepasst worden waren. Das Wort Trowie war ein Beispiel dafür.
    Trow, fand ich heraus, war eine inselspezifische Verballhornung des norwegischen Wortes Troll . Der Legende nach waren die Wikinger, als sie auftauchten, um zu plündern und zu schänden, nicht allein gekommen – sie hatten die Trows mitgebracht. Die meisten frühen Quellen, die ich finden konnte, beschrieben die Trows als recht liebenswerte, wenngleich grottenhässliche Geschöpfe: ein munteres, fröhliches Völkchen, das in prächtigen unterirdischen Höhlen hauste und gutes Essen, Trinken und Musik zu schätzen wusste, dem jedoch Kirchen und alles, was mit Religion zusammenhing, verhasst waren. Die Menschen gaben acht, sie nicht zu kränken, ihrer übernatürlichen Fähigkeiten wegen.
    Sie besaßen die Macht zu verzaubern und zu hypnotisieren, und lockten gern Menschen von ihrem Heim fort, besonders Kinder und junge Frauen. Außerdem besaßen sie die Gabe, sich unsichtbar zu machen, vor allem nachts und in der Dämmerung.
Starkes Sonnenlicht war, je nachdem, welche Geschichten man las, für sie entweder unangenehm oder tödlich.
    Ich stieß auf Legenden von Trows, die sich des Nachts in Häuser schlichen, um das Kaminfeuer herumsaßen und Haushaltsgerät stahlen, Werkzeuge, oder – am allerliebsten – Gegenstände aus Silber. Außerdem Geschichten von Inselbewohnern, die Gaben wie frisches Wasser und Brot für ihre Trowiebesucher vor die Tür stellten, so wie Kinder gefüllte Pasteten für den Weihnachtsmann bereitlegten. Ich erfuhr, dass Trows machtlos waren, wenn sie sich Eisen gegenübersahen.
    Alles recht harmloses, unterhaltsames Zeug. Bis ich zu den Unst-Versionen der Geschichten vordrang. Dann wurde das Ganze merklich düsterer.
    Gletna Kirk zum Beispiel, nicht weit von Uyeasound, war dank der Trowies niemals fertiggebaut worden. Alles, was an Mauern im Lauf eines Tages errichtet worden war, fand man am nächsten eingerissen und verstreut vor. Eines Nachts, erzürnt über den Mangel an Fortschritt, war der amtierende Priester am Bauplatz geblieben, um Wache zu halten. Am nächsten Morgen fand man ihn tot auf. Sein Mörder wurde nie gefunden, das Bauvorhaben eingestellt und den Trows die Schuld gegeben.
    Ich las, dass man die zahllosen winzigen Hügel überall auf den Inseln für Trowgräber hielt; anscheinend waren diese Kreaturen heikel, wenn es darum ging, wie sie begraben werden wollten. Trows glaubten, dass ihre Seelen, wenn ihre Leiber nicht in »süßer, dunkler Erde« ruhten, umherwandern und bösartig werden würden. Viele Trows wurden zusammen begraben; sie bevorzugten sogar im Tod Gesellschaft. Sogar heute noch, so wurde behauptet, würde ein Bewohner der Inseln, der auf seinem Land aufgewühlte Erde fand, dieser Entdeckung nicht auf den Grund gehen, um nicht versehentlich ein Trowgrab zu öffnen und einen bösen Geist zu befreien.
    Ich bin nicht im Entferntesten