Todesopfer
lange, nachdem sie vor meinen Augen verschwammen und ich sie nicht mehr klar erkennen konnte. Doch als ich die Augen schloss, waren sie immer noch da. Schmerz. Entbehrung. Hunger. Womit in aller Welt hatte ich es hier zu tun? Und »Opfer«? Was für ein Ungeheuer ritzt einer Frau solche Worte in den Leib?
Und was für ein Unterschied. Mit Hilfe von Danas Buch hatten wir die drei Runen mit »Trennung«, »Durchbruch« und »Zwang«
übersetzt und wenig Bedeutung darin gesehen. Nach Richards Skript jedoch erschienen die Runen sehr viel passender: Fruchtbarkeit  â eine gebärfähige Frau. Ernte â das neue Leben, das aus ihrem Leib hervorkommt. Opfer â der Preis, den sie zahlen muss. Ich hatte herausgefunden, dass die Runen, die in Melissas Leichnam geschnitten waren, sehr wohl etwas zu bedeuten hatten, und â was noch beklemmender war â dass mein Schwiegervater dies wusste und beschlossen hatte, es für sich zu behalten. AuÃerdem wurde mir klar, dass Danas Bibliotheksbuch gar nicht so falsch gelegen hatte. »Zwang« schien sich ganz natürlich in eine Wortgruppe einzufügen, zu der auch »Opfer«, »Schmerz« und »Entbehrung« gehörten; genauso gab es Verbindungen zwischen »Durchbruch« und Worten wie »Ernte« und »Neues Leben«. Es war lediglich eine Frage des Blickwinkels und der Betonung.
Etwas begann in meinem Kopf zu rumoren. An all dem war noch etwas anderes dran, das ich nicht erkannte, etwas Neues, etwas an der Bedeutung der Worte, etwas, das mir entging.
Auf einem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke stand ein Faxgerät. Ich ging mit den Papierblättern hinüber, kopierte sie und steckte die Kopien in die GesäÃtasche meiner Jeans. Dann verlieà ich das Zimmer und nahm mir ein paar Minuten Zeit, um die Tür hinter mir wieder abzuschlieÃen.
Ich musste Dana anrufen. Sie war weder auf ihrem Handy noch zu Hause zu erreichen. Von der Auskunft bekam ich ihre Nummer in der Polizeidienststelle von Lerwick, doch es meldete sich nur ihre Mailbox. Als ich gerade überlegte, was ich als Nächstes tun solle, klingelte das Telefon. Ich nahm ab, und eine Männerstimme fragte nach Richard.
»Hier ist McGill. Sagen Sie ihm, die Jolle von seinem Sohn isâ geborgen worden. Isâ unten auf meiner Bootswerft. Ich muss wissen, was ich jetzt machen soll.«
Ich versprach, es auszurichten, und lieà mir die Adresse der Werft geben. Ich hatte aufgelegt, ehe mir klar wurde, dass es eigentlich meine Aufgabe war, mich damit zu befassen. Das Boot gehörte Duncan und mir. Duncan und mir. Wie lange würde ich
noch Duncan und ich sagen können? Ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Nein. Nicht jetzt. Damit konnte ich mich jetzt nicht auseinandersetzen.
Der Mann von der Werft hatte nicht gesagt, ob es eine Frage des Reparierens oder des Verschrottens sei, und ich hatte auch nicht gefragt. Ich konnte hinfahren und mir die Bescherung ansehen. Alles war besser, als hier herumzuhängen und nichts zu tun, dafür aber zu viel Zeit zum Nachdenken zu haben.
Wieder rief ich Danas Mailbox an und berichtete ihr von den neuen Bedeutungen der Runen, die ich gefunden, und von der Frau, die sie als Trowiezeichen bezeichnet hatte. Ãngstlich bemüht, das Zeitlimit ihrer Mailbox nicht zu überschreiten, sprach ich viel zu schnell, als ich die verschiedenen Geschichten über Trows und Kunal Trows referierte und vorschlug, dass sie alles untersuchen solle, was es an Inselkulten gab, die mit alten Legenden in Verbindung standen. Dabei belieà ich es; Richard erwähnte ich nicht. Vielleicht war das Ganze seinerseits nichts weiter als Sturheit, und letzten Endes widerstrebte es mir doch ein wenig, den Vater meines Mannes anzuschwärzen.
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Ich borgte mir Elspeths Fahrrad, fuhr nach Uyeasound und fand die Werft. Ein rothaariger, rotgesichtiger Einheimischer von vielleicht achtzehn oder neunzehn sagte, McGill sei für eine halbe Stunde weg, und führte mich in den Schuppen, wo mehrere Boote in unterschiedlichen Bau- oder Reparaturstadien aufgepallt waren. Unser Laser lag in der Ecke gegenüber der Tür an der Wand. Aus dem Bug war ein Stück herausgerissen, und die linke Seite wirkte ziemlich verbeult und zerschrammt.
»Gehört das Boot Ihnen?«, fragte der Junge.
Ich nickte.
Er trat von einem Fuà auf den andern, sah erst das Boot und dann mich an.
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