Todesopfer
allmählich zur Ruhe kommen. Ich warf einen Blick auf die Patientenkarte, die an meinem Bett hing. Für die Nacht waren keine Medikamente vorgesehen; mit ein bisschen Glück würde man mich bis zum Morgen nicht vermissen.
Ich öffnete die Tür. Drei der Betten im Nebenraum waren belegt. Eine Frau saà aufrecht da und stillte. Die beiden anderen schienen zu schlafen, ihre winzigen Anhängsel atmeten leise in transparenten Plastikbettchen. Unbemerkt ging ich zur Tür und auf den Flur hinaus.
Ich brauchte einen Computer, doch ich konnte es nicht riskieren, in mein Büro zu gehen. In einem Raum, zwei Zimmer von meinem entfernt, knipste ich die Schreibtischlampe an und schaltete den Computer ein. Mein Passwort war noch gültig, und ein paar Minuten später war ich im System.
Schub war das Wort, das Jenny benutzt, das etwas in mir zum Klingen gebracht hatte, als ich in meinem Zimmer gelegen und über Freundschaft nachgegrübelt hatte. Ich suchte nach einem »Schub«.
25
In Richards Arbeitszimmer war ich auf eine Interpretation von Melissas Runen gestoÃen, die allmählich eine Bedeutung bekam. Doch eine davon konnte ich noch immer nicht richtig zuordnen. Ich erkannte, aus welcher Richtung der »Künstler« mit Fruchtbarkeit und Opfer kam, aber Ernte? Im internationalen Medizinerjargon benutzen wir das englische Wort für Ernte, wenn wir von der Entnahme eines Organs zu Transplantationszwecken sprechen, und ich spielte mit der Idee, dass es sich auf das fehlende Herz bezog. Aber, mal ehrlich, wie groà ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein archaischer Kult eines modernen medizinischen Fachausdrucks bedient? Je länger ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es mir, dass Ernte nicht auf das Herz verwies, sondern auf das Baby.
Womit ich elegant bei der nächsten Schlüsselfrage angelangt war. Ganz allgemein betrachtet, wie oft findet man die Ernte eines Einzelgegenstands? Benutzt man den Begriff Ernte als Hauptwort, so weisen seine Bedeutungen definitiv auf eine Mehrzahl hin, beschwören Bilder von Fruchtbarkeit und Fülle herauf. Und ich wusste bereits, dass mindestens eine junge Frau 2004 ums Leben gekommen war, in dem Jahr, in dem Melissa angeblich starb. Kirsten Hawick, die auf einem Ausritt von einem Lastwagen angefahren wurde, war Melissa vom Alter und Aussehen her ziemlich ähnlich gewesen. AuÃerdem war ein Ehering, der wahrscheinlich ihr gehörte, in meiner Wiese gefunden worden. Dass das ein Zufall sein sollte, hatte ich niemals wirklich geglaubt.
Melissa war nicht 2004 gestorben und eingeäschert worden; ihr Leichnam, der noch immer in der Leichenhalle lag, lieferte den unumstöÃlichen Beweis dafür. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie, musste ihr früherer Tod vorgetäuscht worden sein;
war also mit Kirsten und vielleicht anderen Frauen das Gleiche geschehen?
Gab es hier noch mehr Leichen zu entdecken?
Das Erste, was ich herausfinden musste, war, wie viele Todesfälle weiblicher Personen 2004 verzeichnet worden waren. Ich rief also die Internetseite des General Register Office for Shetland auf. Es war nicht gerade die userfreundlichste Seite im Netz, doch nach einigem Herumstochern wurde ich fündig: eine einfache Aufstellung der Todesfälle auf den Shetlands, nach Altersgruppen von jeweils fünf Jahren geordnet, zwischen 1983 und 2007.
Im Jahr 2004, in dem Melissas und Kirstens Tod verzeichnet war, hatte es hundertsechs weibliche Sterbefälle gegeben. Als ich die Reihe durchging, stellte ich â wie man es erwarten sollte â fest, dass sich der gröÃte Teil davon in den höheren Altersgruppen ereignet hatte, von fünfundsechzig aufwärts. Am unteren Ende der Skala waren natürlich viel weniger Tote zu finden. In diesem speziellen Jahr hatte es keine Todesfälle von Frauen im Alter zwischen null und neunzehn Jahren gegeben. In der Kategorie zwischen zwanzig und vierundzwanzig dagegen waren es fünf gewesen. Im Alter zwischen fünfundzwanzig und dreiÃig hatten drei Frauen den Tod gefunden, und in der Altersgruppe darüber, zwischen dreiÃig und vierunddreiÃig, vier. Insgesamt zwölf tote junge Frauen in einem Jahr.
Schien mir eine ganze Menge zu sein.
Als Nächstes schaute ich mir das Jahr 2005 an. Nur sechs Frauen aus den entsprechenden Altersgruppen waren gestorben. Im Jahre 2006 hatte es nur vier solcher Todesfälle gegeben.
2006 war das
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