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Todesopfer

Todesopfer

Titel: Todesopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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vorn
im Klassenzimmer. Ich hatte irgendwie schlechte Laune und war das Geschwatze und Gezappel der fünf anderen Kinder an meinem Tisch leid, also reckte ich die Hand in die Höhe und bat, mich umsetzen zu dürfen. Ich hatte vor, mich an das leere Pult zu setzen, doch Mrs. Wiliams verstand mich falsch und dachte, ich wollte nur irgendwo anders hin. Sie fragte mich, wo ich denn gern sitzen würde, und angesichts der neuen Möglichkeiten schaute ich mich um.
    Auf der anderen Seite des Klassenzimmers schrie ein Junge, ich solle rüberkommen und an seinem Tisch sitzen. Dann stimmten die meisten anderen in diesen Ruf ein. Überall, wo ich hinsah, baten Kinder mich, doch bei ihnen zu sitzen. Wahrscheinlich empfanden sie das Ganze als Wettstreit; ich bezweifle, dass es echte Sympathie zu mir war, die sie antrieb, doch das konnte ich damals nicht wissen. Mehrere Minuten lang sonnte ich mich in dem Geschrei, ehe ich mir einen Platz aussuchte und von meinen neuen Tischnachbarn begeistert willkommen geheißen wurde.
    Der Vorfall ist mir im Gedächtnis geblieben, weil es das einzige Mal war, dass ich meiner Erinnerung nach das Gefühl hatte, von den Menschen um mich herum geschätzt zu werden, beliebt zu sein.
    In der Oberschule schien ich immer als Teil eines Dreiergespanns zu enden. Ich fing mit einer besten Freundin an, und irgendwann tauchte dann jemand anderer auf, und aus uns beiden wurden drei. Langsam aber sicher verbrachte die Neue immer mehr Zeit mit uns, bis ich die Tatsache nicht länger ignorieren konnte, dass sie mehr mit meiner besten Freundin zusammen war als ich. Immer wieder passierte mir das, bis ich gar nicht mehr wusste, was es hieß, eine eigene beste Freundin zu haben.
    Also lernte ich, nicht zu viel von anderen Frauen zu erwarten. Ich absolvierte mein Medizinstudium, ohne irgendjemanden besonders nah an mich heranzulassen. Dabei war ich keine Streberin, die jeden Abend zu Hause saß und paukte, und niemand hätte mich als Mauerblümchen bezeichnet. Doch es gab niemals diese ganz besondere Freundin, mit der man unbedingt alle paar
Tage reden muss, die einen mit Schokolade und Mitgefühl vollstopft, wenn einem das Herz bricht, von der man weiß, dass sie Trauzeugin sein wird, wenn man mal heiratet, und Patentante des ersten Kindes, das man kriegt.
    Stimmen vor der Tür schreckten mich auf, und ich tat vorsichtshalber so, als schliefe ich.
    Â»Na, wenigstens ist sie in der Nähe, falls sie gebraucht wird«, sagte eine Stimme, die ich als die einer der Hebammenschülerinnen erkannte.
    Â»Glaub nicht, dass das passiert«, erwiderte eine ältere Frau; vielleicht war es Jenny. »Ich hab noch nie einen Schub gesündere Babys gesehen. Diesen Frühling muss irgendwas im Wasser sein.«
    Die Hebammen gingen weiter, und ich versank wieder in meinem Selbstmitleid.
    Eins will ich mir zugutehalten, ich dränge mich niemals auf. Ich ergreife Freundinnen gegenüber nur selten die Initiative, warte stets darauf, angerufen zu werden, darauf, dass die andere ein Treffen vorschlägt. Ich beklage mich nie, wenn Freundschaften zu erkalten beginnen, murre nie, wenn der Notizblock neben dem Telefon leer bleibt, wenn ich mir bekannte Frauen bei Unternehmungen sehe, zu denen ich nicht aufgefordert worden bin. Ich akzeptiere das als die Norm, verschließe meine Einsamkeit in meinem Innern und stelle sie zu dem Rest ins Regal.
    Worauf dieser Ausbruch hinausläuft, ist Folgendes: Bei Dana hatte dieser ganze Prozess abermals begonnen. Dana war von jemandem, den ich nicht besonders mochte, zu einem Menschen geworden, dem ich vertraute, ohne Fragen zu stellen. Mehr noch, ich hatte angefangen, mich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen. Im Lauf der letzten zehn Tage war Dana dem Status einer Freundin ein Stückchen näher gekommen. Bis sie sich irgendwann, während ich wie ein in Panik geratenes Kaninchen über die Inseln gehetzt war, die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Ich öffnete die Augen. Dem Herrn sei Dank für schwatzende Hebammen. Jetzt wusste ich, was mir seit jenem Moment in Richards Arbeitszimmer zu schaffen machte, als ich herausgefunden hatte, dass eines
der Symbole auf Melissas Leichnam »Ernte« bedeutete. Ich wusste, wonach ich als Nächstes suchen musste.
    Ich lag in einem Privatzimmer, das an eines meiner Belegbettenzimmer grenzte. Rasch suchte ich nach meinen Kleidern und zog mich an. Es war Viertel vor neun, und die Klinik würde

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