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Todesopfer

Todesopfer

Titel: Todesopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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zwang mich mit aller Kraft, mich langsam zu bewegen, und ging auf Charles zu. Der Bach ist schmal und manchmal unter den Binsen und dem langen Gras kaum auszumachen. Im Sommer führt er nur wenig Wasser, doch die Rinne ist tief. Charles scharrte und schob mit den Vorderbeinen, um sich herauszustemmen, doch da er mit dem Hinterbein festhing, war das unmöglich. Außerdem kostete ihn jeder Versuch Kraft, steigerte seine Panik und bohrte die scharfen Zinken tiefer in sein Fleisch. Ich war noch nie auch nur annähernd in einer solchen Situation gewesen, und einen Moment lang war ich versucht, einfach um Hilfe zu rufen. Nur dass ich wusste, dass mich niemand hören würde.

    Knapp außer Reichweite von Charles’ Hufen blieb ich stehen und versuchte, ihn zu beruhigen. Wenn er mir nur erlauben würde, seinen Kopf zu berühren, dann hatte ich eine Chance, das wusste ich.
    Â»Ruhig, ruhig, gaaanz ruhig, hooo, ganz ruhig.« Ich streckte die Hand nach ihm aus. Sein Kopf schnellte hoch und auf mich zu, die Zähne schnappten. Dann fuhr er herum und versuchte wegzulaufen. Ich kannte dieses Pferd, seit es zwei Jahre alt war; man hatte es zum Einreiten auf den Hof meiner Mutter gebracht, und ich war seine einzige Reiterin, doch Panik hatte mich in einen Feind verwandelt. Ich schaute nach unten. Das linke Hinterbein war mehr oder weniger bewegungsunfähig, und zwei, nein, drei, Drahtstränge schienen Charles an den Zaun zu fesseln. Wenn er mich nah genug herankommen ließ, könnte es mir gelingen, die durchzuschneiden, so dass er aus dem Graben herauskam.
    Ich sprang in den Bach hinunter. Charles funkelte mich böse an und fuhr wieder herum. Ein Tritt von einem Großpferd kann schwere Verletzungen zur Folge haben, wenn nicht gar tödlich sein – doch wenn ich nicht an ihn herankam, konnte ich ihm nicht helfen. Sanft redete ich auf ihn ein und wünschte mir, meine Stimme würde ruhiger klingen, während ich mich vorwärtsschob. Er atmete schwer und rollte mit den Augen. Wenn er vorsprang, würde ich unter zwei sehr kräftige Vorderbeine geraten; wenn er stürzte, würde er mich erdrücken. Das Ganze sah nach einem völlig sinnlosen Unterfangen aus, und einen Moment war ich versucht, einfach aufzugeben und den Tierarzt anzurufen. Doch die Chance, dass der sofort kam, war äußerst gering. Wenn also überhaupt eine Möglichkeit bestehen sollte, Charles zu retten, dann musste ich ihn mehr oder weniger sofort von diesem Drahtzaun befreien.
    Wieder machte ich einen Schritt vorwärts, als Charles sich aufbäumte und gefährlich auf seinen gefesselten Hinterbeinen balancierte. Dann kippte er wieder nach vorn, und ich trat vor, bevor er sich wieder fangen konnte. Ich sprach nicht mehr auf ihn ein, meine Stimme versagte einfach. Ich kauerte mich in dem
Graben hin und zwang mich mit schierer Willenskraft, die halbe Tonne Knochen und Muskeln über mir zu ignorieren, während ich mit der Zange den ersten dicken Drahtstrang packte. Er zersprang, und Charles suchte sich genau diesen Augenblick aus, um mit beiden Hinterbeinen auszuschlagen. Die verbleibenden Drähte gruben sich tief in seinen Fesselkopf, und er schrie vor Schmerz auf. Wieder stieg er, und diesmal schwebten die lebensgefährlichen Vorderbeine direkt über meinem Kopf und zuckten abwärts. Ich musste hier weg!
    Â»Bleiben Sie, wo Sie sind«, hörte ich eine Stimme.
    Ich erstarrte.
    Ãœber mir konnte ich blauen Himmel sehen, weiße Wolken und das unmittelbare Bevorstehen eines gewaltsamen Todes.
    Charles’ Vorderhufe schlugen mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde, und er schluchzte auf. Ich weiß, Sie haben noch nie davon gehört, dass ein Pferd schluchzt, aber glauben Sie mir, genau das tat er. Ein gebräunter, sommersprossiger Arm, mit feinen goldenen Härchen bedeckt, war um seinen Hals geschlungen, und zwei riesige Hände hatten seine Mähne gepackt und hielten ihn ruhig. Es war unmöglich. Kein Mensch ist stark genug, um ohne Zügel oder auch nur ein Halfter ein Pferd festzuhalten, das vor Angst völlig durchdreht, doch Gifford schaffte es.
    Während ich dalag, halb im Graben und halb draußen, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren, beobachtete ich, wie Gifford Charles’ Mähne streichelte. Er drückte den Kopf an Charles’ Nase, und ich konnte seine Stimme leise Worte flüstern hören, die ich nicht verstand.

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