Todesopfer
überlegte ich. Unst oder Yell? Unst schien näher zu liegen, und es fühlte sich instinktiv richtig an, heimwärts zu schwimmen, doch die Klippen von Unst sind steiler und sehr viel abweisender
als die der Nachbarinsel. Es würde nicht viel nützen, das Land zu erreichen und dann am Fuà einer DreiÃig-Meter-Klippe an Unterkühlung zu sterben. Ich peilte Yell an und begann zu schwimmen.
Etliche Minuten später war ich im Wasser kein Stück vorangekommen. Ich wusste nicht mehr, wie die Strömungen hier in der Bucht verliefen, vermutete jedoch, dass ich gegen eine davon ankämpfte. Wieder schaute ich mich um, hoffte wider alle Vernunft, dass jemand mich bemerken würde: ein vorbeifahrender Fischkutter, ein Wanderer auf den Klippen, eine andere Jolle, irgendjemand. Da erblickte ich das, was mir das Leben retten sollte: Keine zehn Meter weit entfernt, auf dem Wasser, das von Minute zu Minute grauer und dunkler wurde, kaum zu erkennen, trieb ein Teil einer zerbrochenen Holzpalette. Ich schwamm darauf zu. Mehrere Male berührte ich die Palette, woraufhin sie davonglitt, doch schlieÃlich bekam ich sie zu fassen. Ich klammerte mich daran fest und begann, mit den Beinen zu paddeln.
Der Wind nahm zu, die See wurde rauer und der Regen heftiger. Von Zeit zu Zeit stieÃen Seevögel ganz in meiner Nähe herab und krächzten mich an. Zuerst dachte ich, sie wären nur neugierig, dann fing ich an, mich zu fragen, ob sie versuchten, mir etwas zu sagen: Nicht dorthin â du schwimmst genau auf einen Strudel zu, halt dich jetzt nach Süden â die Strömung wird dich an Land tragen. Nach einer Weile überlegte ich, ob die Aussicht auf Aas vielleicht ihr wahrer Beweggrund war.
Ich weià genau, wie lange ich an jenem Tag im Wasser war, weil ich beim Segeln immer eine wasserdichte Armbanduhr trage. Die Uhr half fast genauso viel wie die Palette. Sie rettete mich vor der verwirrenden Orientierungslosigkeit, davor, nicht zu wissen, wie viel Zeit vergangen war, und half mir, mir kleine Ziele zu setzen, sogar Spielchen zu spielen. Zehn Minuten schwimmen und dann zwei Minuten ausruhen, auf die Sekunde genau. Dann schloss ich Wetten mit mir selbst ab. Noch wie viele Minuten, bis ich Seevögel auf den Klippen ausmachen, und noch wie viele, bis ich Wildblumen auf den Felsen erkennen konnte?
Die Palette hielt mich über Wasser; die Uhr verhinderte, dass ich durchdrehte. Und meine Beine, kräftig von Jahren des täglichen Reitens, strampelten mich zurück an Land.
Es dauerte drei Stunden und zwanzig Minuten, die vierhundert Meter von der Stelle, wo die Jolle gekentert war, bis nach Yell zurückzulegen. Das entspricht ungefähr dreiÃig Längen in einem fünfundzwanzig Meter langen öffentlichen Schwimmbad. Und wenn das bleientenhaft langsam erscheint, dann muss man bedenken, dass man in Schwimmbädern für gewöhnlich keine Gezeiten, Strömungen oder eisigen Temperaturen vorfindet und auch keinen strömenden Regen, der auf einen niederprasselt. Doch schlieÃlich war es vorbei, und um zehn vor zwölf wusste ich, dass, wenn mir denn der Tod durch Ertrinken bestimmt war, es nicht heute geschehen würde. DreiÃig Sekunden später taumelte ich auf den Strand.
An Unterkühlung zu sterben war allerdings noch immer eine Möglichkeit, also musste ich in Bewegung bleiben. Mühsam erhob ich mich und schaute mich um. Vor mir befand sich eine Klippe: nicht gerade gigantisch hoch, aber nichtsdestotrotz eine Klippe. Der Strand war sehr schmal, kaum mehr als ein Sandstreifen, und hinter einem mickrigen Damm entdeckte ich einen kleinen See. Er wurde von zwei Bächen gespeist, die von der Klippe über ihm herabrannen, und mir wurde klar, dass sie meine beste Chance waren.
Ich begann zu klettern. Der Bach, dem ich folgte, hatte im Lauf der Jahre zahlreiche kleine Stufen und Spalten in den Stein gegraben, und das Klettern war nicht schwer. Die gröÃte Gefahr bestand darin, dass ich unvorsichtig wurde und ausrutschte. Noch ehe ich oben ankam, sah ich ein Auto vorbeifahren, keine dreiÃig Meter von mir entfernt, doch der Fahrer sah starr geradeaus. Ich kletterte weiter und brach am StraÃenrand zusammen.
Der Regen schlug mir ins Gesicht wie eine Peitsche mit tausend winzigen Schnüren, und wenn eine Patientin in die Notaufnahme gekommen wäre und so gezittert hätte, wie ich es jetzt tat, hätte ich mir ernsthafte Sorgen gemacht.
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