Todesopfer
war das Einzige, dem ich mich in diesem Moment gewachsen fühlte.
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Stimmen weckten mich. Noch immer war ich völlig benommen. Ich wollte weiterschlafen. Also schloss ich die Augen und kuschelte mich ein.
Duncan brüllte. Noch nie hatte ich es erlebt, dass jemand in diesem Hause laut geworden war. Ich öffnete die Augen wieder. Die Vorhänge waren zugezogen, und eine Lampe verströmte sanftes Licht in der Zimmerecke. Ich rollte mich herum, um auf die Uhr zu schauen. Es war kurz nach sieben Uhr abends. Vorsichtig setzte ich mich auf und fühlte mich ganz gut, also stieg ich aus dem Bett.
Die Tür stand einen Spalt breit offen. Jetzt konnte ich Richard hören. Er brüllte nicht â ich bezweifelte, dass er dazu fähig war â, doch er widersprach heftig. Ich trat auf den Flur hinaus und verharrte unschlüssig oben an der Treppe.
Die Tür von Richards Arbeitszimmer stand offen, und Duncan erschien im Türrahmen. Er blieb stehen und drehte sich um, blickte ins Zimmer zurück.
»Mir reichtâs«, verkündete er mit fester Stimme. »Ich will da raus. Ich steige aus!«
Dann war er weg: den Flur entlang, durch die Küche und zur Hintertür hinaus. Ich hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl, dass er für immer verschwunden war, dass ich Duncan nie mehr wiedersehen würde.
Ich tappte die Treppe hinunter. Nach vier Stufen bemerkte ich, dass Richard sich nicht allein im Arbeitszimmer befand. Elspeth war bei ihm. Sie stritten sich auch, aber sehr leise. Noch eine Stufe, und ich begriff, dass sie ihn anflehte.
»Das ist unvorstellbar«, sagte Richard.
»Er liebt sie«, wandte Elspeth ein.
»Das kann er nicht machen. Er kann nicht einfach alles hinter sich lassen, was er hier hat.«
Ich erstarrte, eine Hand ums Geländer gekrampft; dann zwang ich mich mit aller Gewalt, mich zu bewegen, wich zurück, auf Beinen, die plötzlich wieder zitterten, eine Stufe ⦠zwei ⦠drei. Oben angekommen rannte ich zurück ins Gästezimmer und kroch wieder ins Bett. Während meiner Abwesenheit waren die Laken kalt geworden, und ich begann zu schlottern. Ich zog mir die Steppdecken über den Kopf und wartete darauf, dass das Zittern nachlieÃ.
Duncan wollte mich verlassen? Natürlich war mir klar, dass es zwischen uns seit einiger Zeit nicht gerade bestens lief. Schon bevor wir nach Schottland gezogen waren, hatte er sich verändert: hatte weniger gelacht, weniger geredet, war öfter weg gewesen. Ich hatte das dem Stress des bevorstehenden Umzugs zugeschrieben und unseren Problemen damit, eine Familie zu gründen. Jetzt schien es, als wäre es viel mehr. Was ich als schwierige Phase betrachtet hatte, hatte er als das Ende gesehen. Er hatte eine Rettungsleine gefunden und war im Begriff, von Bord zu gehen.
Gab es noch eine andere Erklärung für das, was ich eben gehört hatte? So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine finden. Duncan würde mich verlassen. Duncan liebte jemand anderen. Eine Frau, die er bei seinen Reisen kennengelernt hatte? Jemanden von den Inseln?
Was zum Teufel sollte ich tun? Ich hatte hier einen Job. Ich konnte doch nicht einfach nach sechs Monaten kündigen und abhauen. Wenn ich das tat, konnte ich jede künftige Stelle als Ãrztin abschreiben, vorausgesetzt, dass ich, bei all dem, was hier los war, die Inseln überhaupt würde verlassen dürfen. Ich war doch nur in diese gottverlassene Gegend gezogen, um bei Duncan zu sein. Wie sollte ich jetzt jemals ein Baby bekommen?
Als meine Tränen schlieÃlich flossen, waren sie heià und brannten, und ich musste mir in den Arm beiÃen, um nicht laut loszuheulen. Meine Kopfschmerzen waren mit äuÃerster Heftigkeit zurückgekehrt. Ich wollte nicht nach unten gehen und Richard gegenübertreten, also stand ich auf, um nachzusehen, ob im Bad etwas zu finden war. Im Badezimmerschrank war nichts, ebenso
wenig in dem Toilettenbeutel, den Duncan für mich eingepackt hatte. Duncans Beutel stand neben meinem auf dem Fensterbrett.
Ich begann von Neuem zu schluchzen, und meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Ich zog seinen Toilettenbeutel herunter und schaute hinein. Ein nasser blauer Waschlappen, Rasierer, Zahnbürste, Ibuprofen â Gott sei Dank â und noch eine zweite Tablettenschachtel. Ohne richtig nachzudenken, nahm ich sie und las den Aufdruck: Desogestrel. Darin befanden sich drei Reihen
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