Todesregen
gekommen war.
»Bleib, wo du bist!«, sagte sie warnend und hob mit gestreckten Armen die Pistole.
In den Glaskugeln auf dem Boden zuckten die Kerzenflammen, wurden größer und kleiner. Ein Wechselspiel aus Licht und Schatten wanderte über Angies Gesicht, sodass Molly nur schwer erkennen konnte, welchen Ausdruck es hatte.
»Seit ein paar Jahren«, sagte Angie, »bin ich mit Billy Marek zusammen. Billy mag Messer, hat ein paar Leute aufgeschlitzt, war im Knast.«
Wie in Trance stand sie da. An ihrer Stimme war zu hören, dass sie von unterdrückten Emotionen gepeinigt wurde, von Kummer und Furcht, von kaum gezügeltem Entsetzen. Doch was verbarg der flackernde Kerzenschein? Psychotische Wünsche? Zorn? Mörderische Wut? Schwer zu sagen.
»Mich wird er nie aufschlitzen, das weiß ich, weil ich ihn nie betrügen werde, aber die Leute haben Respekt vor ihm, und deshalb haben sie auch Respekt vor mir.«
Obwohl Molly erst vor einem Augenblick die Treppe kontrolliert hatte, bildete sie sich ein, dass etwas heraufkam. Vielleicht war es keine Einbildung, sondern diesmal wirklich so.
»Er hat einmal jemanden für mich aufgeschlitzt«, sagte Angie. »Ich wollte es, und Billy hat’s getan. Nachher hatte ich Gewissensbisse. Es hat mir leidgetan. Aber er hat’s gemacht, und er würde es wieder machen, wenn ich ihn darum bitten würde, und das ist ein gutes Gefühl.«
Molly machte einen Schritt nach links und schob sich mit dem Rücken an der Wand entlang, um etwas mehr Distanz zwischen sich und die nackte Frau, aber auch zwischen sich und die Treppe zu bringen.
»Wenn er hier wäre«, sagte Angie, »würde ich ihn bitten, und er würde mich aufschlitzen. Genau richtig würde er es tun, nicht zu tief, damit ich es nicht selbst tun muss.«
Wahnsinn lag in der Luft. Molly hatte fast den Eindruck, dass er an Stäubchen angelagert im Raum schwebte, leicht eingeatmet werden konnte und über Lunge und Herz schnurstracks ins Gehirn wanderte.
Um die Lage unter Kontrolle zu bringen, musste sie sich auf das konzentrieren, was sie hergeführt hatte. »Angie, hör mir zu!«, sagte sie. »Vorher war ein Mädchen hier. Es heißt Cassie.«
»Ich will gehorchen, ganz ehrlich, ich will gehorchen und ihm Folge leisten wie die anderen. Schlitzt du mich bitte auf?«
» Wem gehorchen? Angie, ich will dir helfen, aber ich verstehe nicht, was hier vorgeht.«
»Die Wunden sind eine Einladung. Sie sammeln sich an den Schnitten. Sie kommen durchs Blut, wenn man sie einlädt. «
Pilze, dachte Molly, Sporen.
»Tausende von ihnen«, sagte Angie, »sie kommen durchs Blut. Sie wollen ein bisschen im Fleisch sein, im lebendigen Fleisch, bevor ich sterbe.«
Selbst wenn der Tanz aus Schatten und Kerzenlicht Angies Gesichtszüge nicht verzerrt hätte, wären ihre Absichten nicht erkennbar gewesen. Der Wahnsinn überlagerte alles andere.
»Angie, bitte leg die Flasche weg und lass dir helfen«, sagte Molly, ohne sich verstellen zu müssen. Trotz ihrer Furcht war sie von Mitgefühl für diese gequälte und verwirrte Frau erfüllt. »Ich bringe dich hier raus.«
Auf dieses Angebot reagierte Angie mit nervöser Angst. »Erzähl doch keinen Scheiß, du mieses Stück! Das ist unmöglich, und das weißt du auch. Ich kann nirgendwo hin, kann mich nirgendwo verstecken, nie, nie mehr. Du auch nicht. Man wird dir schon noch sagen, was du tun musst, man wird es dir sagen, und du wirst es tun oder leiden müssen!«
Aus der Betonwand an Mollys Rücken drang die Kälte durch ihre Kleider bis in die Knochen. Sie begann zu zittern, ohne etwas dagegen unternehmen zu können.
»Ich muss gehorchen.« Mit einem langen, qualvollen Stöhnen schlug Angie sich mit der Faust auf ihre Brüste. »Gehorchen oder leiden.«
Mit wachsender Verzweiflung versuchte Molly es noch einmal: »Cassie. Ein neunjähriges Mädchen. Blondes Haar. Blaue Augen. Wo ist sie? «
Angie warf einen kurzen Blick auf die Kellertreppe. Ihre Stimme war scharf und eindringlich: »Sie sind alle unten, sie haben die Einladung ausgesprochen, sie haben geschlitzt, sich aufgeschlitzt, sie haben ihr Blut geöffnet.«
»Was geschieht da unten?«, fragte Molly. »Wo finde ich das Mädchen, wenn ich da runtergehe?«
Angie streckte den Arm aus und drehte die Handfläche nach oben. »Ich hab gebissen«, sagte sie. »Ich hab so fest zugebissen, und da ist Blut.«
Selbst im trügerischen Kerzenlicht waren am Daumenballen Zahnspuren erkennbar, bedeckt mit dick verklumptem Blut.
»Ich kann beißen, aber
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