Todesregen
Mollys Standort aus genauso wenig sichtbar wie der Keller, in den sie führten. Wie sie die Taschenlampe auch hielt, dieser Bereich blieb im Dunkeln.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück.
Leichter gesagt als getan. Die Angst schnürte Molly fast die Kehle zu, und dabei hatte sie das enge, gestufte Tal da vor sich noch nicht einmal betreten.
Um das Schicksal der Menschen zu erfahren, die diesen Weg mit ihrem Blut markiert hatten, um herauszufinden, ob Cassie noch am Leben war und wo ihre drei Wachhunde geblieben waren, musste Molly mindestens bis zu dem mittleren Absatz hinuntergehen. Dort angelangt, konnte sie sich bücken und mit der Lampe in die Finsternis des Kellers leuchten.
Sie wusste nicht recht, ob mit dieser Situation ihr Mut oder ihre Besonnenheit auf die Probe gestellt wurde. Unter
den gegebenen Umständen war es womöglich gut und richtig, sich besonnen zu verhalten, aber auf die Schnelle war es ziemlich schwierig, den Unterschied zwischen Besonnenheit und Feigheit zu erkennen.
Nicht das leiseste Murmeln stieg mit dem merkwürdig riechenden Luftzug empor. Kein Seufzen. Kein Husten. Kein Wimmern. Kein Wort eines geflüsterten Gebets.
Wenn vierzig Menschen in einem kalten Lagerraum zusammengepfercht waren, dann hätte man wohl ein paar klagende Laute oder eine nervöse, durch die drangvolle Enge verursachte Bewegung erwarten können.
Selbst wenn das Pochen von vierzig angstvollen Herzen unhörbar war, hätte das hektische Atmen so vieler Personen ein verräterisches Geräusch verursachen müssen. Nicht alle hätten gleichzeitig den Atem anhalten können, um zu warten, bis Molly ihren nicht mehr anhielt.
Dennoch wartete der Keller in einer angespannten Stille, die tiefer war als bloßes Schweigen.
Mollys Mund war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte, doch es gelang ihr, ein fragendes Wort hervorzustoßen: »Cassie?«
Der Keller nahm den Namen an, gab jedoch nichts zurück.
Schweiß, kalt wie Eiswasser, rann an Mollys rechter Schläfe herab und machte einen Bogen um ihr Ohr.
Sie hob die Stimme, weil sie das erste Mal fast geflüstert hatte: »Cassie?«
Eine Antwort kam nicht von dem Mädchen, ja überhaupt nicht aus der Dunkelheit dort unten, sondern aus dem Raum hinter Molly: »Ich kann beißen, aber schlitzen kann ich nicht.«
47
In die Hocke gehen, herumwirbeln, zielen, abdrücken, alles in einer fließenden Bewegung – Molly tat die ersten drei Dinge, hielt jedoch mit dem Finger am Abzug inne und erschoss die Frau vor ihr nicht.
Wer da nackt in dem kleinen Raum stand, war Angie Boteen, die Kellnerin im »Benson’s Good Eats«, dem einzigen Esslokal des Orts. Sie war in den Zwanzigern, hatte dunkle Haare und graue Augen, spielte Klarinette und liebte Swingmusik, und nun umklammerte sie den gezackten Hals einer zerbrochenen Coronaflasche.
»Ich war schon immer ängstlich, besonders bei Messern und Rasierklingen … und bei Glasscherben«, sagte Angie.
Sie klang wie sie selbst und doch wieder nicht. Sie sah wie sie selbst aus, war es jedoch nicht. Die Angst in ihrer Stimme war echt, doch zugleich schien sie irgendwie zu träumen, abwesend zu sein.
»Ich muss mich aufschlitzen, und das will ich auch, ich will gehorchen, ganz ehrlich, aber vor scharfen Sachen hab ich immer solche Angst gehabt!«
Molly begnügte sich mit dem Kerzenschein und schob die Taschenlampe hinten in ihren Gürtel, um beide Hände für die Pistole frei zu haben.
»Angie, was ist da unten geschehen?«
Angie Boteen nahm keine Notiz von der Frage, als hätte sie sie gar nicht gehört. Sie befand sich offenbar nicht im ruhenden Pol des Augenblicks, sondern in der Vergangenheit:
»Als ich sechs war, hat Onkel Carl Tante Veda aufgeschlitzt, weil sie ihn betrogen hatte. Die Kehle hat er ihr aufgeschlitzt. Ich war dabei, hab alles mit angesehen.«
»Angie …«
»Sie hat es überlebt, mit einer Narbe am Hals, bloß beim Sprechen krächzte sie. Er kam ins Gefängnis, und als er herauskam, hat sie ihn wieder aufgenommen.«
Mit der Kellertreppe im Rücken fühlte Molly sich ebenso nackt wie Angie.
»Nach dem Gefängnis haben die Leute Onkel Carl anders behandelt. Nicht schlechter. Vorsichtiger, mit mehr Respekt.«
Obwohl sie Angie Boteen nicht gern aus den Augen ließ, drehte Molly kurz den Kopf nach links, um hinunterzuschauen. Niemand auf den Stufen.
Als sie wieder Angie mit ihrer gezackten Flasche im Blick hatte, merkte sie, dass diese in dem kurzen Moment einen Schritt näher
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