Todesregen
ich kann nicht schlitzen. Ich kann beißen, und da ist Blut, aber das reicht nicht aus, denn man hat mir befohlen, ich soll schlitzen !«
Zwischen den brennenden Kerzen hindurch bewegte sie sich auf Molly zu, und diese wich im Bogen zurück.
Angie streckte ihr die abgebrochene Flasche hin, ohne sie umzudrehen, sodass Molly auf die spitzen Zacken starrte. »Nimm das und schlitz mich auf!«, sagte sie zornig.
»Nein. Leg die Flasche weg.«
Kummer stieg in Angies irre Augen, gefolgt von Tränen. Ihre Wut verwandelte sich von einem Augenblick zum anderen in Verzweiflung und Selbstmitleid. »Ich hab nicht mehr viel Zeit. Gleich kommt er die Treppe hoch; er kommt und will mich holen.«
»Wer?«
»Er befiehlt.«
»Wer?«
Angies rote Augen schwammen in Tränen. »Er. Es. Das Ding.«
»Welches Ding?«, fragte Molly.
Die Tränen wuschen die Jahre von Angie Boteens Gesicht und verliehen ihm den Ausdruck eines verängstigten Kindes. »Das Ding. Das Ding mit Gesichtern in den Händen.«
48
In früheren Jahrhunderten hatte man die Geisteskranken in Irrenhäuser gesperrt. Solche Anstalten gab es schon seit einem Menschenalter nicht mehr, doch nun war die ganze Welt vom einen Pol zum anderen zum Tollhaus geworden.
Vielleicht schlich tatsächlich eine Gestalt mit Gesichtern in den Händen im Keller umher, ein Ding, wie Goya es in seinen dunkelsten Stunden hätte ersinnen und malen können, aber selbst wenn das Ungeheuer nur in Angie Boteens Hirn existierte, war es für sie völlig real.
»Ich hab Angst vor scharfen Dingen«, sagte sie. »Bin schwach. Bin immer schon schwach gewesen. Ich will gehorchen, denn sie erwarten Gehorsam, aber ich kann mich einfach nicht aufschlitzen. Ich kann beißen, aber ich kann nicht schlitzen.«
Während Molly im Halbkreis zurückwich, trat sie vorsichtig zwischen die Kerzen wie eine Zauberin, die versucht, in ihrem schützenden Pentagramm zu bleiben.
Angie kam immer näher, die abgebrochene Flasche in der erhobenen Hand. »Nimm das. Hilf mir, schlitz mich auf! Bevor er zurückkommt …« Ein Blick zur Treppe, dann auf Molly. »Schlitz mich auf, bevor er wütend wird und zurückkommt.«
Molly schüttelte den Kopf. »Nein. Wirf das weg!«
Gleichermaßen flehend und zornig sagte Angie: »Was immer du hasst, sieh es in mir. Wen immer du beneidest, was immer du fürchtest, sieh es in mir – und dann tu’s, schlitz mich auf, schlitz mich auf! «
So zäh Molly auch war und immer gewesen war, seit sie als Kind unsagbaren Schrecken erlebt hatte, nun spürte sie doch, wie etwas in ihr zu brechen drohte, eine Barriere, die halten musste, wenn sie jemals Cassie finden und die vielen anderen Kinder retten wollte, die ihre Hilfe brauchten.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie blinzelte sie weg, weil sie fürchtete, sie könnten ihr den Blick verschleiern. Wenn sie jedoch nicht mehr klar sehen konnte, dann war sie angreifbar für Angie und für das, was die vierzig Menschen in den Keller getrieben hatte, für das Ding mit Gesichtern in den Händen, falls es tatsächlich existierte.
»Angie …« Mollys Stimme brach, und dann sprach sie unwillkürlich zu dem verwundeten Kind im Herzen dieser Frau. »Was haben sie dir nur angetan?«
Selbst in ihrem Wahnsinn erkannte Angie Boteen die Zärtlichkeit, die Molly zum Weinen gebracht hatte. Offenbar begriff sie auch die Endgültigkeit dieser Worte, denn sie schleuderte die Flasche weg, die klirrend an der Aufzugtür zerbarst.
»Wenn ich nur schon tot wäre.« Angie begann zu zittern, als würde ihr erst jetzt bewusst, dass sie in diesem kalten Raum ganz nackt war. »Wenn ich nur tot wäre.«
Molly ließ die Pistole sinken. »Komm, ich bringe dich hier raus.«
Entsetzt starrte Angie zur Kellertreppe. »Es kommt!«
Molly wich zur Tür der Gaststube zurück, behielt jedoch die Treppe im Blick und hob wieder die Pistole.
Obgleich die Frau vor ihr offenbar keinerlei Interesse an Cassie hatte und nur mit sich selbst beschäftigt war, versuchte Molly es ein letztes Mal: »Ein neunjähriges Mädchen. Du musst es gesehen haben. Es war das einzige Kind, das hiergeblieben ist.«
Angie Boteen begann im Boden zu versinken, als stünde sie in Treibsand.
49
Eine außerirdische Spezies, die Jahrhunderte oder Jahrtausende fortgeschrittener ist als wir, könnte über eine Technologie verfügen, die uns nicht wie das Ergebnis angewandter Wissenschaft vorkäme, sondern völlig übernatürlich, wie reine Magie.
Diese These irgendeines Science-Fiction-Autors
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