Todesregen
vor den Toten nur leise spricht.
Molly hob mit beiden Händen ihre Waffe und zielte auf sein schönes Gesicht. »Ich bringe die Kinder jetzt raus.«
»Tot vielleicht.«
»Tot bist hier höchstens du«, sagte sie, »falls es so weit kommt.«
»Falls es so weit kommt«, äffte er sie nach. »Du bist moralisch zu verwirrt, um das Richtige zu tun, liebe Molly. Schließlich hättest du mich schon in der Kneipe umlegen können, aber du hast mich entkommen lassen. Was meinst du wohl, welche Gräueltaten ich inzwischen begangen habe?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du unterschätzt mich«, sagte sie.
Zitternd, mit eingekniffenem Schwanz und gesenktem Kopf, schlich Virgil an Render vorbei, um sich zu den Kindern zu gesellen.
Render verzog den Mund zu dem gewinnenden Lächeln, mit dessen Intensität und Wärme er Mollys Mutter zur
Heirat verlockt hatte. »Wie hieß noch mal dieses schöne Fremdwort für den Mord am eigenen Vater? Patrizid, soviel ich weiß.«
»Ich habe keinen Vater«, sagte Molly.
»Das redest du dir ein, aber überzeugt davon bist du nicht. Du weißt, dass ich damals in deine Schule gekommen bin, weil ich dich liebte und dich nicht verlieren wollte.«
»Du hast doch immer bloß dich selbst geliebt.«
»Ich habe dich so sehr geliebt, dass ich an jenem Tag getötet habe, um dich zu mir zu holen. Ich habe jeden getötet, der mir im Weg stand, nur um die Chance zu haben, dich so aufzuziehen, wie es ein guter Vater tun sollte.«
Er ging einen Schritt auf sie zu.
»Bleib stehen!«, sagte sie warnend. »Denk dran, damals hab ich zweimal geschossen.«
»Und das auch noch in den Rücken«, sagte er. »Aber damals warst du unschuldig und wusstest noch nicht, wie kompliziert es ist, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. «
Er kam ihr noch einen Schritt näher und streckte den Arm aus, die Handfläche nach oben gewandt, als wollte er eine emotionale Verbindung zu ihr herstellen.
Molly wich zurück.
Im Weitergehen sagte er: »Nun komm, umarme deinen Daddy, und dann setzen wir uns hin und reden über alles.«
Molly trat in das offene Tor zum Vorraum. Von hier aus konnte sie nur weiter zurückweichen, wenn sie den Raum verließ – und Render die Kinder überließ.
Mit ausgestreckter Hand kam er weiter auf sie zu. »Deine Mutter hat immer an die Kraft der Liebe geglaubt und daran, dass man über alles diskutieren kann. Sie hat gesagt, mit gutem Willen und ein wenig Kompromissbereitschaft könne man alles erreichen. Hat sie dir das denn nicht beigebracht, Molly?«
Sie schoss ihn in die Brust. Den Knall des Schusses dämpfte der Tresorraum nicht; er hallte, als befänden sie sich im Innern einer riesigen Glocke.
Molly hörte die Kinder schreien und sah aus dem Augenwinkel, dass einige von ihnen die Hände an die Ohren pressten. Andere hielten sich die Augen zu.
Der Schuss ließ Render zusammenzucken. Seine Augen wurden weit. Dann lächelte er.
Sie drückte noch einmal ab, ein drittes und ein viertes Mal, aber er ging nicht zu Boden. Vier Einschüsse klafften in seiner Brust, doch aus ihnen quoll kein Blut.
Sie ließ die Waffe sinken. »Du warst schon tot«, sagte sie. »Schon als du in die Kneipe kamst.«
»Als das Chaos ausbrach, hätten einige der Wärter in der Anstalt uns am liebsten freigelassen«, sagte er. »Aus Mitleid, damit wir nicht wie wilde Tiere im Käfig verhungerten oder uns gegenseitig auffraßen. Aber zwei Wärter waren damit nicht einverstanden, und die haben uns in unseren Zellen erschossen, bevor sie nach Hause gegangen sind.«
Was vor ihr stand, war nicht ihr Vater, sondern eine bis ins letzte Detail stimmige Imitation. Die veränderte sich nun und wurde zu dem, was sie wirklich war, ein schwarzgrau geflecktes Ding mit einem Gesicht, das aussah, als wäre es einmal implodiert und anschließend schlecht rekonstruiert worden. Hervorquellende Augen, so groß wie Zitronen, purpurrot mit elliptischen schwarzen Pupillen. An Schultern mit spitzen Knochenplatten hingen gefaltete, ledrige Flügel.
Molly wusste, dass sie nun vor einem Fürsten von einem anderen Stern stand, vor einem Angehörigen der Spezies, die gekommen war, um die Erde zu erobern.
Als er ihr seine großen, kräftigen, mit Krallen bewehrten Hände zeigte, sah sie in jeder ein Gesicht. Im Gegensatz zu den Gesichtern in den Pilzen waren sie leicht plastisch und
sahen dadurch noch echter und verstörender aus. In der linken Hand befand sich das Gesicht von Michael Render, in der rechten das von Vince Hoyt, der
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