Todesregen
es sah nicht so aus, als würde jemand durchs Fenster die Straße beobachten.
»Da stimmt was nicht«, sagte Neil. »Da ist was schiefgelaufen. «
»Und fünf Kinder sind dadrin«, sagte Molly.
Ihre Aufgabe war noch nicht beendet.
59
Falls die Kinder tatsächlich irgendwie und aus irgendeinem Grund immun gegen tödliche Gewalt waren, dann waren sie auf der Straße sicher. Die Hunde konnten sie bewachen, und Neil konnte Molly in die Bank begleiten.
Dass sie von der Vernichtung ausgenommen waren, war allerdings nur eine Theorie, selbst wenn diese von allerhand überzeugenden Indizien gestützt wurde. Und das war nicht genug. Ein Erwachsener musste also auf jeden Fall draußen bleiben.
Diesmal bestand Neil darauf, den Vorstoß zu unternehmen, aber Virgil reagierte darauf negativ. Er weigerte sich, Neil zu begleiten und hockte sich stattdessen vor den Eingang, als wollte er ihn blockieren.
Neil beugte sich über den Hund, um die Tür zu öffnen, stellte jedoch fest, dass sie verschlossen war.
Als Molly sich näherte, stand Virgil auf und wedelte mit dem Schwanz. Molly hob die Hand, und die Tür ging auf, noch bevor sie sie berührt hatte.
Wie schon so oft auf dieser höllischen Odyssee hegte etwas Unbelebtes bestimmte Absichten.
Mit einer Umarmung und einem Kuss gab sich Neil geschlagen. Er ging zu den Kindern zurück, die mit den restlichen Hunden auf der Straße standen.
Unterwegs hatte Molly das Magazin ihrer Pistole herausgenommen und die verbrauchte Patrone ersetzt. Nun waren wieder zehn Schuss geladen. In den Taschen ihrer Jeans hatte sie noch etwas zusätzliche Munition.
Die Taschenlampe in der linken, die Pistole in der rechten Hand drückte Molly mit der Schulter die Tür ganz auf und folgte Virgil, der bereits hineingeschlüpft war.
Die einzige Bank in Black Lake und Umgebung war 1936 erbaut worden, während der Weltwirtschaftskrise, als es dringend nötig war, den Kunden durch ein imposantes Bankgebäude ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Sie war zwar nicht so prachtvoll wie die aus derselben Zeit stammenden Bankgebäude in größeren Städten, wirkte aber auf ihre Weise durchaus beeindruckend. Marmorfußboden, sechs Marmorsäulen, marmorne Wandverkleidung. Die Bankschalter hatten ornamentale Rahmen aus polierter, dunkler Bronze mit eingelegten Zierelementen aus Nickel.
In der gesamten Kassenhalle, auch hinter den Schaltern und in dem offenen Servicebereich hinter einer Marmorschranke, brannten Campinglampen, die leise zischten wie träumende Schlangen.
Molly knipste die Taschenlampe aus und schob sie sich wieder hinten unter den Hosenbund, um beide Hände für die Waffe frei zu haben.
Obwohl über zwanzig Erwachsene und fünf Kinder die Kneipe mit der Absicht verlassen hatten, die Bank zur Festung auszubauen, befanden sich nur vier Erwachsene im Raum, drei Männer und eine Frau. Sie standen Seite an Seite vor den Schaltern, mit dem Rücken zur Tür.
Als Molly eintrat, drehten sie sich nicht um, was merkwürdig war, denn die Tür hatte ein wenig gequietscht, und die Krallen des Hundes verursachten auf dem Steinboden ein klickendes Geräusch, das von sämtlichen Marmorflächen zurückgeworfen wurde.
Von hinten erkannte Molly nur eine der vier Personen, Vince Hoyt, den Geschichtslehrer und Footballtrainer.
»Vince?«
Er drehte sich nicht um.
»Alles in Ordnung?«
Keiner der vier rührte sich.
Hilfe suchend sah Molly auf Virgil hinab. Der aber hatte die Führungsrolle abgegeben, betrachtete Molly mit ernstem Blick und wartete darauf, dass sie etwas tat.
Während sie durch den Raum auf die vier Gestalten zuging, fiel ihr auf, dass sie stocksteif dastanden, mit erhobenem Kopf und gestrafften Schultern. Sie sahen aus wie Soldaten bei der Parade, nur dass ihre Arme schlaff herunterhingen.
»Was ist denn mit euch los?«, fragte Molly und erfuhr die Antwort, als sie die Formation von vorne sah.
Die vier Gestalten hatten keine Gesichter.
60
Da war das Phänomen, das Cassie beschrieben hatte: Menschen ohne Augen, Nase, Mund, mit Gesichtern, die von Ohr zu Ohr und vom Haaransatz bis zum Kinn glatt waren, die die Farbe von fahlem Lehm hatten und glänzten wie glasierte Keramik.
Die vier hätten eigentlich tot sein müssen, denn sie konnten nicht atmen.
Tatsächlich hob und senkte sich ihre Brust nicht wie beim Ein- und Ausatmen, aber von Zeit zu Zeit zuckten sie, und der Hals bewegte sich, wenn sie schluckten. Bei zweien pochte sichtbar ein jagender Puls an den Schläfen. Außerdem
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