Todesregen
zitterten bei allen die schlaff an den Seiten hängenden Hände.
Sie strahlten eine Beklemmung aus, die fast greifbar war, fast so stark, dass man sie riechen konnte. Sie hatten kein Gesicht mehr, waren jedoch immer noch irgendwie am Leben – und sie hatten entsetzliche Angst.
Irgendwo hier in der Bank waren fünf hilflose Kinder, und zweifellos war ein Ding mit Gesichtern in den Händen bei ihnen. Weil diese Kreaturen scheinbar allwissend waren, wusste dieses Ding bestimmt, dass Molly da war.
Virgil war noch immer nicht bereit, die Führung zu übernehmen, blieb jedoch tapfer an Mollys Seite, obgleich seine Flanken zitterten.
Molly öffnete die niedrige bronzene Gittertür zwischen den Schaltern und betrat das Reich des Geldes, im Bewusstsein, dass Geld keinerlei Bedeutung mehr hatte.
Der Schalterbereich war hinten durch ein weiteres niedriges Geländer begrenzt. Molly öffnete die Tür darin und trat mit Virgil in einen Flur.
Hier waren in gleichmäßigen Abständen drei Campinglampen aufgestellt. Nichts störte das Schweigen bis auf die zischenden Flammen, die hinter dem Schutzglas brannten.
Auf dem Teppichboden, auf dem sie nun gingen, machten die Pfoten des Hundes keinerlei Geräusch.
An der einen Wand befanden sich fünf Türen, an der anderen drei, alle mit Milchglasscheiben in der oberen Hälfte. Auf einigen standen die Namen von Bankangestellten, eine war mit WC beschriftet. Zwei trugen keinerlei Kennzeichnung.
Am Ende lag der Eingang zum Tresorraum. Die massive runde Edelstahltür, die in einen stählernen Rahmen eingelassen und mit drei dicken Verschlussbolzen versehen war, stand offen.
Hinter den Milchglasscheiben links und rechts war es überall dunkel. Molly überlegte, ob sie trotzdem in die einzelnen Räume hineinschauen sollte, vertraute dann jedoch ihrer Intuition und ging vorsichtig daran vorbei.
Im Kopf hörte sie Cassies angstvolle Stimme: Sie können dein Gesicht nehmen und es in den Händen halten, sie können es dir zeigen, zusammen mit anderen Gesichtern …
Im Tresorraum glomm mindestens eine Gaslampe. Direkt hinter der breiten Schwelle sah Molly niemanden.
… und sie können die Gesichter in der Faust zerquetschen und zum Schreien bringen …
Molly war noch etwa fünf Meter vom Tresor entfernt, als sie in Kopf und Mark, in Blut und Knochen die Rückkehr des gewaltigen Raumschiffs spürte. Es näherte sich von Nordosten und schien die Atmosphäre unter seinem Rumpf zu komprimieren, sodass Molly sich wie eine Tiefseetaucherin fühlte, auf deren Schultern ein gewaltiger Meeresdruck lastete.
Einige Schritte weiter hörte sie ein Rieseln, drehte sich um und sah, wie Virgil an die Wand pinkelte. Anschließend kam er mit eingekniffenem Schwanz zu ihr, zitternd, aber tapfer.
»Guter Junge«, flüsterte sie ihm zu, »braver Junge!«
Am Eingang des Tresorraums blieb sie angstvoll stehen. Ihr Mund war heiß und trocken, ihre Hände waren kalt und feucht. Der gerippte Pistolengriff war schlüpfrig von Schweiß. Sie versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken, doch ihre Zähne klapperten einen Augenblick wie Kastagnetten.
Sie stieg über die fast einen Meter breite, gebogene Schwelle aus Stahl. Direkt dahinter befand sich eine Gittertür, die ebenfalls offen stand.
Molly kam in einen kleinen Vorraum, von dem es geradeaus in eine quadratische Kammer mit Schließfächern ging. Dort brannte eine Laterne, aber die Kammer war leer.
In der rechten Wand des Vorraums befand sich ein weiterer Durchgang mit einem offenen Tor. Dahinter lockte Licht.
Selbst hier im Tresor spürte Molly das rhythmische Pulsieren der gewaltigen Maschinen, die den Koloss über den Ort trugen.
Sie trat durchs Tor. Links kam der Raum, in dem das Geld aufbewahrt wurde. Molly sah Regale mit gebündelten Scheinen, Münztrögen und Kassenbüchern.
Auf dem Boden hockten die fünf Kinder, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie hatten Angst, doch sie waren am Leben. Und da war auch, wie Molly sich hätte denken können, Michael Render, ihr Vater.
61
Vor zwanzig Jahren hatte Render in Mollys Klassenzimmer fünf Kinder ermordet, und hier waren wieder fünf in Gefahr.
Als wüsste er, was sie dachte, sagte er: »Da ist die magische Zahl ja wieder beisammen, nicht wahr?«
Molly hätte erwartet, dass die Tresorwände seine Stimme mit metallischem Echo zurückwerfen würden, aber das Gegenteil war der Fall. Er klang gedämpft. So höhnisch seine Worte waren, er hörte sich an wie ein Leichenbestatter, der aus Achtung
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