Todesregen
zuerst möchte ich dir eine kleine Geschichte erzählen, damit du deinen lieben alten Daddy besser verstehen kannst.«
Die Situation wurde zunehmend surreal. Klaustrophobisch. Lähmend. Albtraumhaft.
Molly steckte im Zangengriff von Vergangenheit und Zukunft, die beide so hart und unerbittlich Druck ausübten, dass sie kaum noch atmen und sich bewegen konnte. Selbst die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken.
»Ich habe zwanzig Jahre hinter Schloss und Riegel verbracht. Innere Dunkelheit, Entbehrungen. Da schuldest du es mir zumindest, mir ein Weilchen zuzuhören. Nur eine kleine Geschichte, dann bin ich wieder weg.«
Als Michael Render vor zwanzig Jahren seine letzte Chance versiebt hatte, das Sorgerecht für Molly zu bekommen,
hatte er zu dem Überzeugungsmittel gegriffen, das er nun angeblich nicht mehr zufriedenstellend fand: zu einer Pistole. Er war in die Grundschule gekommen, um sie aus dem Klassenzimmer zu holen, und hatte sich zu diesem Zweck einen Vorwand ausgedacht, den der Schulleiter offenkundig nicht überzeugend fand. Als Render klar wurde, dass er Verdacht erregte, hatte er eine Pistole gezogen und den Schulleiter erschossen.
»Nach fünf Jahren Behandlung«, fuhr er nun fort, »wurde ich in eine Anstalt mit niedrigeren Sicherheitsstandards überführt. Dort gab es einen großen, wunderschönen Park. Die Patienten, die sich am besten verhielten, die größten therapeutischen Fortschritte machten und sich nach Ansicht der Ärzte auf dem Weg zu einsichtsvoller Reue befanden, durften in den verschiedenen Gärten arbeiten, wenn sie wollten.«
Nach der Ermordung des Schulleiters hatte sich Render auf die Suche nach Mollys Klassenzimmer gemacht, dabei eine Lehrkraft erschossen und zwei weitere verwundet. Er hatte das Zimmer gefunden und die Lehrerin, Mrs. Pasternak, schwer verwundet; und er hätte Molly entführt, wäre in diesem Augenblick nicht die Polizei erschienen.
»Im Garten trugen wir eine elektronische Fußfessel am Knöchel, die Alarm im Wachbüro ausgelöst hätte, wenn wir uns weiter als erlaubt weggewagt hätten. Ich habe nicht versucht zu fliehen, schließlich gab es einen Zaun, und die Welt draußen kannte mein Gesicht ja nur zu gut. So wurde ich zum Gärtner und spezialisierte mich auf Rosen.«
Bei der Ankunft der Polizei hatte Render Molly und zweiundzwanzig weitere Kinder als Geiseln genommen. Er war nicht dumm, schließlich hatte er einen Hochschulabschluss, und wusste, dass er nicht hoffen konnte, seine Freiheit zu erzwingen, nachdem er zwei Menschen ermordet und drei weitere verwundet hatte. Inzwischen war jedoch
der unablässig schwelende Zorn, der den Kern seiner Persönlichkeit darstellte, zu einer wilden Wut angewachsen, und er hatte beschlossen, wenn ihm schon die Kontrolle über seine Tochter verwehrt blieb, dann würde er auch anderen Eltern das Vergnügen nehmen, ihre Kinder bei sich zu haben.
»Eines Tages habe ich alleine im Rosengarten gearbeitet, als vor mir ein neunjähriger Junge mit einer Einmalkamera auftauchte.«
Render hatte bereits fünf der zweiundzwanzig Kinder umgebracht, als Mollys Schüsse ihn gestoppt hatten. Er hatte zwei Pistolen und mehrere Ersatzmagazine dabeigehabt. Nachdem er beide Waffen nachgeladen hatte, war er über irgendetwas, das die Polizei übers Megafon gesagt hatte, so in Rage geraten, dass er eine Waffe auf den Lehrertisch gelegt und ihr den Rücken zugewandt hatte.
Nun, zwanzig Jahre später, schlug seine Stimme, in der statt jenem früheren Zorn etwas noch Unheilvolleres schwang, Molly unwillkürlich in den Bann: »Seine Kameraden hatten ihn zu einer Mutprobe gezwungen. Deshalb hatte er in einer abgelegenen Ecke, weit weg von den Anstaltsgebäuden, ein Loch in den Zaun geschnitten und war durch den Park geschlichen, um zum Beweis einen der berüchtigten Patienten zu fotografieren.«
Obwohl Molly erst acht Jahre alt und mit Waffen nicht vertraut war, hatte sie die zweite Pistole vom Lehrertisch genommen, mit beiden Händen gepackt und dreimal abgedrückt. Der Rückstoß erschreckte sie sehr, aber es gelang ihr trotzdem, Render zweimal zu treffen, zuerst in den Rücken und dann in den rechten Oberschenkel. Der dritte Schuss, der fehlging, verletzte glücklicherweise niemand anderen, sondern bohrte sich in die Wand.
»Der berüchtigte Patient, auf den der Junge stieß, war ausgerechnet ich«, sagte Render. »Natürlich hatte er Angst, aber ich habe mich von meiner besten Seite gezeigt, als
Fotoobjekt angeboten und mich achtmal
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