Todesrennen
um mit Hilfe der Flugzeit berechnen zu können, wie viel Treibstoff ihr noch zur Verfügung stand. Die Kartentasche und den Kompass, den sie sich gewöhnlich um den Oberschenkel schnallte, hatte sie zu Hause gelassen. Da sie in diesen Bergen geboren war, orientierte sie sich an Seen, Eisenbahngleisen und am North River.
Vor sich gewahrte sie eine dunkle Schlucht, so tief und mit derart steilen Seitenwänden, dass es aussah, als hätte ein zorniger Riese den Berg mit einer Axt gespalten. Eine Lücke zwischen den Bäumen neben der Schlucht entpuppte sich als goldene Wiese und die erste große Lichtung, die sie seit ihrem Start zu Gesicht bekam.
Sie entdeckte einen winzigen roten Fleck, der wie die Haube eines Spechts aussah.
Es war ein Jagdhut auf dem Kopf von Marco Celere, dem italienischen Erfinder, der ihre Flugmaschinen baute. Marco saß auf einem hohen Felsen und suchte mit Hilfe eines Fernglases nach Bären. Auf der anderen Seite der Wiese, zwischen den Bäumen, die an ihrem Rand standen, entdeckte sie auch die massige Silhouette ihres Ehemannes.
Harry Frost hatte das Gewehr im Anschlag und zielte damit auf Marco.
Josephine hörte den Schuss. Er war lauter als der Motor und das Klappern der Antriebsketten hinter ihr.
Harry Frost hatte das seltsame Gefühl, dass er den Italiener verfehlt hatte.
Er war ein erfahrener Großwildjäger. Seit er mit großem Reichtum in den Ruhestand übergewechselt war, hatte er Elche und Bighornschafe in Montana, Löwen in Südafrika und Elefanten in Rhodesien geschossen, und er hätte schwören können, dass die Kugel hoch über das Ziel hinweggegangen war. Doch da lag der dunkelhäutige Freund seiner Frau am Rand der Felsklippe und krümmte sich, zwar getroffen, aber nicht tot.
Frost hebelte eine frische Patrone in die Kammer seiner Marlin 1895 und fand ihn im Zielfernrohr. Er hasste den Anblick von Marco Celere – das ölige schwarze Haar, mit Pomade an den Schädel geklatscht, die hohe Stirn wie ein Varieté-Julius-Cäsar, die buschigen Augenbrauen, die tief liegenden dunklen Augen, der gewachste Schnurrbart, der sich an den Enden wie das Ringelschwänzchen eines Schweins hochkräuselte –, und er genoss es, den Abzug zu drücken, als plötzlich ein seltsames Rasseln seinen Kopf ausfüllte. Es klang wie die Dreschmaschine im Heim für geisteskranke Straftäter in Matawan, wo ihn seine Feinde eingesperrt hatten, weil er seinen Chauffeur im Country Club erschossen hatte.
Die Klapsmühle war schlimmer gewesen als das monströseste Waisenhaus, an das er sich erinnern konnte. Einflussreiche Politiker und teure Anwälte konnten sich zugutehalten, ihn herausgehauen zu haben. Aber es war völlig richtig gewesen, ihn zu entlassen. Schließlich hatte dieser Chauffeur mit seiner ersten Ehefrau ein Verhältnis gehabt.
Unglaublicherweise war ihm das mit seiner zweiten Frau jetzt ebenfalls passiert. Er konnte es jedes Mal in ihren Gesichtern lesen, wenn Josephine ihn um noch mehr Geld für Marcos Erfindungen bat. Zurzeit bettelte sie ihn an, die jüngste Flugmaschine des Italieners von seinen Gläubigern zurückzukaufen, damit sie das Atlantic-to-Pacific Cross-Country Air Race gewinnen konnte und den mit fünfzigtausend Dollar Preisgeld dotierten Whiteway Cup errang.
Wäre das nicht großartig? Ein Sieg bei dem größten Luftrennen der Welt würde seine flugbegeisterte Frau und ihren Erfinder-Freund berühmt machen. Preston Whiteway – der hochnäsige, mit einem silbernen Löffel im Mund geborene Zeitungsverleger aus San Francisco, der das Rennen sponserte – würde sie zu Stars machen und gleichzeitig fünfzig Millionen Zeitungen verkaufen. Der trottelige Ehemann würde ebenfalls berühmt werden, ein berühmter, gehörnter, fetter, alter, reicher Ehemann – und zur Witzfigur für alle, die ihn hassten.
Reich war er, sogar einer der reichsten Männer in Amerika, der allerdings jeden verdammten Dollar selbst verdient hatte. Aber Harry Frost war noch nicht alt. Knapp über vierzig war wirklich nicht so alt. Und jeder, der behauptete, er bestünde mehr aus Fett als aus Muskeln, hatte nicht gesehen, wie er ein Pferd mit einem einzigen Schlag tötete – ein Trick, den er in seiner Jugend des Öfteren vorgeführt hatte und der mittlerweile zu einem Geburtstagsritual geworden war.
Anders als bei dem Verrat im Zusammenhang mit seinem Chauffeur würden sie ihn diesmal aber nicht schnappen. Kein Aus-der-Haut-Fahren mehr. Diese Sache hatte er bis ins kleinste Detail geplant. Indem
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