Todesrennen
Butler meldete sich und rief Hennessy ans Telefon.
»Vater, hör mir gut zu. Archie wurde angeschossen … Ja, er ist schwer verletzt. Es gibt in Chicago einen Chirurgen. Ich brauche ihn hier in zwölf Stunden.«
Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte zu Bell: »Der Twentieth Century und der Broadway Limited brauchen achtzehn Stunden. Welcher Zug sollte es von Chicago nach New York in kürzerer Zeit schaffen als diese beiden erstklassigen Expresszüge?«
Isaac Bell gestattete sich ein hoffnungsvolles Lächeln. »Ein Sonderzug, der auf Gleisen unterwegs ist, die von einem Eisenbahnbaron, der seine Tochter liebt, frei geräumt wurden.«
»Commissioner Bakers Feinde bezeichnen ihn als Leichtgewicht«, knurrte Osgood Hennessy über den erst kürzlich ernannten Polizeichef von New York. »In meinen Augen ist er ein verdammt fähiger und dazu auch noch anständiger Bursche.«
Sechs Fahrzeuge der Traffic Squad und ein Motorrad, das die Polizeibehörde gerade einem Test unterzog – mit der Absicht, eine Motorradeinheit aufzubauen –, warteten mit laufenden Motoren vor dem Grand Central Terminal, um Hennessys Limousine mit Höchsttempo über die Manhattan Bridge, durch Brooklyn und ins Nassau County zu eskortieren. Die Straßen waren noch dunkel und die Dämmerung nicht mehr als ein mattes rosiges Schimmern am östlichen Horizont.
»Da sind sie!«, rief Lillian.
Isaac Bell kam im Sturmlauf aus dem Bahnhofsgebäude gerannt, die Hand wie eine eiserne Klammer um den Oberarm eines jugendlichen und hellwachen Nuland-Novicki gelegt, der neben ihm hertrabte wie ein Jagdhund auf einer frischen Fährte.
Motoren röhrten, Sirenen heulten, und schon nach wenigen Sekunden raste die Limousine die Park Avenue hinunter. Lillian reichte Nuland-Novicki die jüngste telegrafische Nachricht des Krankenhauses. Er las sie und nickte. »Der Patient ist ein kräftiger Mann«, sagte er mit beruhigender Stimme. »Das ist immer eine Hilfe.«
In Belmont Park wurde das gleiche rosige Schimmern von der glänzenden Stahlschiene reflektiert, auf der Dmitri Platows revolutionärer Thermomotor seinen letzten Testlauf absolvieren sollte. Der sich aufhellende Himmel trieb den Mann, der darunter kauerte, bei seiner Tätigkeit zur Eile an. Wenn er noch länger dort hocken blieb, würden Frühaufsteher sehen, dass er mit einem verstellbaren Schraubenschlüssel, einem sogenannten Engländer, Schrauben löste. Dem Mann stieg bereits ein erster Frühstücksduft in die Nase. In der Brise, die über das Innenfeld fächelte, lag der Geruch von Speck, der in den Hilfszügen im Rangierbahnhof auf der anderen Seite der Tribüne gebraten wurde.
Jeden Moment würden die ersten Mechaniker erscheinen. Aber Sabotage war eine mühsame und zeitraubende Angelegenheit. Ehe er die Schraubenmuttern in Angriff nahm, musste er warten, bis das Kriechöl die Gewinde ausreichend benetzt hatte, um ein Quietschen von rostigem Metall zu vermeiden. Danach musste er überschüssige Öltropfen abwischen, die sonst von scharfen Augen bemerkt würden, deren Besitzer die letzten erdgebundenen Tests durchführten, ehe er mit Steve Stevens’ Doppeldecker experimentierte, der nicht weit von der Schiene entfernt unter einer Abdeckplane wartete.
Er hätte sein Werk längst beendet gehabt, wenn die Detektive, die Josephine Josephs Flugmaschine bewachten, es sich nicht zur Gewohnheit gemacht hätten, gelegentlich über das Innenfeld zu patrouillieren. Leise und unberechenbar erschienen sie wie aus dem Nichts, leuchteten mit ihren Lampen herum, verschwanden ebenso schnell wieder und ließen ihn mit der Überlegung zurück, wann und aus welcher Richtung sie wohl das nächste Mal auftauchen würden. Zwei Mal war er in Deckung gegangen, hatte sich nervös den Arm massiert und darauf gewartet, dass sie endlich weitergingen.
Der letzte Schritt, nachdem er den Schraubanker gelöst hatte, der zwei aneinanderstoßende Enden der Schiene fixierte, bestand darin, Streichhölzer in die Lücken zu klemmen, die er geschaffen hatte. Falls doch jemand die Verbindung überprüfte, würde sie sich nicht gelockert anfühlen. Wenn jedoch die von dem Thermo-Motor entfesselten enormen Kräfte auf sie einwirkten, würden die Schienenabschnitte auseinandergedrückt werden, und die Verbindung würde getrennt. Der Effekt wäre der gleiche wie bei einer Eisenbahnweiche, die geöffnet wurde, um einen Zug von einem Gleis auf ein anderes umzuleiten. Nur gab es hier lediglich eine einzige Schiene, und der
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