Todesrennen
anzufordern, falls der Gesuchte auftauchen sollte. Als er schließlich alles Nötige in die Wege geleitet hatte, um die Fahndung anzukurbeln, kommandierte Bell ein Dutzend Detektive mit dem Auftrag ab, sich ständig in Josephines Nähe aufzuhalten, und raste anschließend in seinem gemieteten Pierce zum Nassau Hospital in Mineola, wohin Archie gebracht worden war.
Archies bildschöne Ehefrau Lillian, eine junge blonde Frau von neunzehn Jahren, war schon mit dem Automobil von New York herübergekommen und stand nun in einem langen Staubmantel vor dem Operationssaal. Ihre auffällig hellblauen Augen wirkten trocken und hellwach, aber ihr Gesicht war vor tiefer Sorge maskenhaft starr.
Bell schloss sie in die Arme. Er hatte sie mit Archie bekannt gemacht, da er gespürt hatte, dass das ausgelassene einzige Kind eines verwitweten, gern hemdsärmelig auftretenden Eisenbahntycoons das Leben seines Freundes mit einer besonderen Art von Glück und Freude erfüllen würde. Und er hatte sich nicht geirrt. Sie beteten einander an. Er hatte ihren misstrauischen Vater überzeugen können, in Archie den Mann zu sehen, der er tatsächlich war, und ihn nicht als Mitgiftjäger zu betrachten. Du hast mein Leben verändert, hatte sich Archie bei der Hochzeit bedankt, an der Bell als Trauzeuge teilgenommen hatte. Ironischerweise hatte er Jahre vorher Archies Leben schon einmal verändert, indem er ihm vorgeschlagen hatte, als Detektiv bei Van Dorn zu arbeiten. Hätte er das doch nie getan.
Bell beobachtete über ihren Kopf hinweg, wie ein Chirurg mit ernster Miene aus dem Operationssaal kam. Als er sah, dass Bell Lillian im Arm hielt, flackerte in seinen Augen Erleichterung auf, als würde ihm die Tatsache, dass sie von einem Freund getröstet wurde, die Aufgabe einfacher machen, ihr mitzuteilen, dass ihr Mann verstorben war.
»Der Doktor ist da«, raunte Bell leise.
Sie wandte sich um. »Sagen Sie es.«
Der Arzt zögerte. Für Isaac Bell war Lillian Osgood Abbott die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte. Er konnte vergessen, dass sie so außerordentlich schön war, dass die meisten Männer Schwierigkeiten hatten, bei ihrer ersten Begegnung mit ihr überhaupt … zu reden. In diesem schrecklichen Moment vermutete Bell, dass der Arzt offenbar nicht fähig war, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, das bewirken würde, dass Tränen über ihre Wangen liefen oder ihr tapferer Mund zu zittern begann.
»Sagen Sie es«, wiederholte sie und ergriff die Hand des Arztes. Diese Geste machte ihm offenbar Mut.
»Es tut mir leid, Mrs. Abbott. Die Kugel hat großen Schaden angerichtet, hat um Haaresbreite das Herz verfehlt und zwei Rippen zertrümmert.«
Bell spürte, wie sich in seinem Herzen ein schwarzer Abgrund auftat. »Ist er tot?«
»Nein! … Noch nicht.«
»Ist es hoffnungslos?«, fragte Lillian.
»Ich wünschte, ich könnte …«
Bell verstärkte den Druck seines Arms um ihre Taille, als ihre Beine ein wenig nachgaben.
Er ergriff das Wort. »Gibt es nichts, was man tun könnte?«
»Ich … nichts, das ich tun könnte.«
»Gibt es irgendjemanden, der ihn retten könnte?«, fragte Isaac Bell.
Der Doktor seufzte tief auf und sah ihn blicklos an. »Es gibt nur einen Mann, der in der Lage wäre, eine Operation zu versuchen. Der Chirurg S. D. Nuland-Novicki. Während des Burenkriegs hat er neue Methoden der Behandlung von Schusswunden entwickelt. Unglücklicherweise ist Dr. Nuland-Novicki aber …«
»Holen Sie ihn her!«, rief Lillian.
»Er ist nicht da. Er hält in Chicago Vorlesungen.«
Isaac Bell und Lillian Osgood Abbott sahen sich an. Hoffnung lag in ihren Augen.
Der Arzt sagte: »Aber selbst wenn Nuland-Novicki den Twentieth Century Limited rechtzeitig erreichen könnte, würde Ihr Mann die achtzehn Stunden, die er für die Fahrt bis hierher braucht, niemals überstehen. Eigentlich sind es neunzehn Stunden, wenn man die Strecke von Long Island hierher mit dazurechnet. Wir können ihn nicht einmal nach New York transportieren.«
»Wie lange geben Sie ihm?«
»Zwölf bis vierzehn Stunden höchstens.«
»Bringen Sie uns zu einem Telefon«, verlangte Bell.
Der Arzt geleitete sie eiligen Schrittes durch kahle, widerhallende Korridore zur zentralen Telefonstation des Krankenhauses. »Gott sei Dank, Vater ist zu Hause«, sagte Lillian. »New York«, sagte sie zu der Telefonistin. »Murray Hill vier-vier-vier.«
Die Verbindung mit Osgood Hennessys Kalksteinvilla in der Park Avenue wurde hergestellt. Der
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