Todesritual: Thriller (German Edition)
spitzte die Ohren, als er näher kam.
Die Vorderfassade trug in großen schwarzen Kursivbuchstaben den Namen »Caille Jacobinne«. Zu beiden Seiten der Tür war auf blassblauen Grund die Silhouette von Toussaint L’Ouverture gemalt. In der Silhouette kleinere Bilder von Che Guevara, José Martí und den Castro-Brüdern, um die ideologischen Verbindungen zwischen den beiden Revolutionen zu verdeutlichen.
Max ging um das Gebäude herum, hinter dem sich ein kleiner See befand. Die grünliche Wasseroberfläche, die zu weiten Teilen von Laub bedeckt war, schimmerte trübe. Darüber schwirrten Insekten. In der Mitte ragte der Bug eines gekenterten Ruderboots aus dem Wasser, es war an der Krone einer entwurzelten Palme festgemacht.
Max ging zum Vordereingang zurück und drückte die Türklinke herunter. Es war nicht abgeschlossen.
Der Innenraum war riesig, dunkel und still; in diesem Gebäude, das sich komplett verlassen anfühlte, wurde es niemals Tag. Max legte einen Stein in die Tür und suchte die Wände nach einem Lichtschalter ab. Er fand keinen.
»Hallo?«, rief er. Sein Echo hallte ihm entgegen.
Er trat ein und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Nach und nach wich die Finsternis zurück und gab den Blick frei auf paillettenbesetzte Voodoo-Flaggen, die von den Deckenbalken hingen, und brennende Kerzen, die gruppiert vor den Wänden standen, je zwei Arrangements an den Längsseiten, zwei an der Rückwand.
Die Kerzen standen auf Altären, die aus schwarz gestrichenen Holzblöcken gebaut waren, auf denen je eine Statue stand: eine schwarze Gipsmadonna mit einem kleinen, rosigen Jesuskind im Arm. Zu ihren Füßen große Kruzifixe, Schalen mit schrumpelndem Obst, Rumflaschen und menschliche Schädel, Münzen, Macheten, Postkarten von Miami und amerikanische Flaggen in kleinen Glaskrügen. An der Wand zur Rechten riesige Wandgemälde von Voodoo-Gottheiten, jeweils zusammen mit ihren göttlichen Gefährtinnen. Ein paar davon kannte er: Da war Baron Samedi – der Gott der Toten und der Friedhofsbewohner – mit Zylinder, Frack und Gehstock, das Gesicht weiß geschminkt, die roten Augen starrten Max unverwandt an, der sofort an Solomon Boukman denken musste, der Baron Samedi verehrt und ihm seine Feinde als Opfer dargebracht hatte. Hier war Samedi zusammen mit seiner unflätigen Gefährtin dargestellt, Maman Brigitte, die in dem kurzen, engen schwarzen Kleid mit halb geöffneten Reißverschlüssen auf den Oberschenkeln wie eine billige Nutte aussah. Sie hielt ein Champagnerglas voller roter Chili-Schoten in der einen Hand, in der anderen einen schwarzen Hahn. Daneben befand sich, ganz in Grün, die schöne Ayida-Weddo, die Göttin der Fruchtbarkeit, der Regenbögen und der Schlangen. Sie hielt ein Neugeborenes im Arm, ihr Mann Damballa, im weißen Anzug mit Krawatte und eiförmiger Krawattennadel, schaute ihr über die Schulter. Es folgte die einzige weiße Göttin des Voodoo, Mademoiselle Charlotte, hier als aufreizende, aber unheimliche kalifornische Surferbraut mit langem blondem Haar und stechend blauen Augen dargestellt, die splitternackt und mit geballten Fäusten einem Teich mit kochendem Wasser entstieg. Danach kam Ogún Feraille, Gott des Feuers und des Krieges, der im Schneidersitz auf heißen Kohlen saß, die wie kleine Schädel aussahen, und zwei Macheten mit weiß glühenden Spitzen vor sich kreuzte. Alle Figuren waren auf einen Hintergrund gemalt, den Max zunächst für Rauch oder Wolken oder Nebel ansah. Bei näherer Betrachtung aber erkannte er, dass dort Menschen abgebildet waren, Menschen beim Sex, beim Kämpfen, beim Tanzen und Essen, bei der Arbeit oder im Schlaf: eine nebulöse Darstellung der kruden Tapisserie des Lebens, reduziert auf das Wesentliche. Das Kerzenlicht intensivierte die Farben der Wandgemälde, und als Max an den Flammen vorüberging, schienen die Götter sich zu bewegen, sich ein kleines Stück in seine Richtung zu drehen, schienen ihm zu folgen. Er durchquerte den Raum und stellte fest, dass die gegenüberliegende Wand identisch gestaltet war, genau wie auch die beiden Altäre, die die gleiche Ausstattung aufwiesen wie ihre Gegenüber.
Er ging zur Rückwand des Gebäudes, die von einem riesigen Gruppenporträt eingenommen wurde. Sein Blick wurde sofort zum Mittelpunkt des Gemäldes gezogen: Vanetta Brown, die ihn unvermittelt ansah, immer noch mit dem Aussehen eines wehrhaften Supermodels, ihr Ausdruck halb freundlich, halb fragend, das Glitzern ihrer
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