Todesritual: Thriller (German Edition)
Augen wiederholte sich in den Kreolen an ihren Ohren. Sie war umringt von mehreren Männern und Frauen, die im Halbkreis hinter ihr standen. Ihre Hand ruhte auf dem Kopf eines kleinen schwarzen Tieres, vermutlich einer Katze, die den Schwanz um Vanettas Wade geschwungen hatte.
Als Max näher kam, sah er mehr Details. Er erkannte den Hintergrund: das Caille Jacobinne selbst und den Vorplatz, den er überquert hatte. Und er bemerkte die irgendwie unpassende Leiste am unteren Rand: zwei in Weiß gemalte Skylines. Havanna und Miami.
Sein Blick wanderte zurück zu den Personen, die sich um Vanetta Brown gruppiert hatten. Männer und Frauen, alle bis auf einen dunkelhäutig. Er betrachtete ihre Kleider: schäbig, geflickt, zu kurz, zu groß, zu lang. Ein Kontrast zu Vanettas blauen Jeans und der langärmeligen Bluse mit den weißen Knöpfen. Sein Blick folgte ihrem linken Arm zu der Hand, die auf dem Kopf des Tieres ruhte.
Er musterte die schwarze Gestalt zu ihren Füßen. Sie hatte keine Züge, kein Gesicht.
Dann plötzlich wurde ihm klar, dass er nicht etwa eine Katze sah, oder überhaupt ein Tier, sondern die Silhouette eines Menschen. Eines Kindes.
Max erschauderte. Er warf einen schnellen Blick hinter sich.
Jemand war hier gewesen und hatte die Kerzen angezündet, trotzdem fühlte das Gebäude sich leer an.
Er betrachtete die gemalte Skyline von Miami. Es war nicht die aktuelle, sondern die Silhouette jener Stadt, die er noch aus seiner Jugend kannte, lange bevor ihr mit Drogengeld die Reißzähne und mit dem Wirtschaftsboom die Schneidezähne gewachsen waren.
Ihm fiel ein Gebäude in der Nähe des Freedom Towers auf, das er nicht kannte. Womöglich sollte es das alte Gericht darstellen, aber dafür war es zu groß. Vielleicht hatte der Künstler einen Fehler gemacht.
Dann plötzlich bewegte es sich.
Da saß jemand, mit dem Gesicht zur Wand, und malte.
»Entschuldigung«, sagte Max und ging langsam auf die Person zu, die an der Spitze des Freedom Towers arbeitete. »Por favor?«
Der Maler – oder die Malerin – hielt mitten in der Bewegung inne, wie erstarrt, den Arm zur Wand ausgestreckt, die Pinselspitze zwei Zentimeter von ihrem Ziel entfernt, als wäre ein Hebel umgelegt und der Körper auf der Stelle abgeschaltet worden.
Max betrachtete die Person: Sie war ganz in Schwarz gekleidet, trug einen Hut mit breiter Krempe und Lederhandschuhe, dazu ein unförmiges Kleidungsstück wie ein Überwurf oder ein Talar, und Schuhe mit dicken runden Kappen, die unter dem Saum hervorschauten.
»Sprechen Sie Englisch? Habla inglés? «
Keine Antwort. Keine Regung. Es war, als spräche er mit einer Schaufensterpuppe. Max tat ein paar Schritte vor, dabei trat er mit dem Fuß gegen etwas Metallisches. Er schaute nach unten und sah einen bunten Kreis aus Farbtöpfen unterschiedlicher Größe, der sich vier Reihen tief um die Person an der Wand zog.
»Du warst in Haiti.« Es war eine Feststellung, keine Frage, und die Person, die sie gemacht hatte, war männlich und sprach mit rauer Stimme und einem Akzent, der eine Rundreise von Haiti über New York hinter sich hatte: Afro-Franko-Brooklyn.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Max.
»Der Geruch.«
»Welcher Geruch?«
»Des Landes.«
»Was ist damit?«
»Du hast ihn immer noch an dir.«
Max konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht an sich selbst zu schnüffeln. Er schaute sich um, um zu sehen, ob sie allein waren. Mit den vielen Göttern an den Wänden kam er sich bedrängt und beobachtet vor, und Vanetta Browns Blick hatte auf einmal etwas Einschüchterndes.
Der Maler hatte sich noch immer nicht bewegt, sein Pinsel schwebte weiterhin kurz vor der trocknenden Turmspitze.
Max neigte den Kopf, um einen Blick auf den Mann zu erhaschen. Sein Gesicht war von einem undurchsichtigen schwarzen Schleier verhüllt, der ihm vom Hutrand bis auf die Schultern fiel.
»Ich bin auf der Suche nach Vanetta Brown«, sagte Max. »Haben Sie sie gesehen?«
»Ich habe seit Jahren niemanden mehr gesehen.«
»Wissen Sie, wo sie ist?«
»Nein.«
Der Maler verharrte so starr wie zuvor. Nicht die geringste Regung, nicht einmal, wenn er sprach. Max war fasziniert, dass er seinen Arm so still halten konnte, ohne das leiseste Zittern.
»Was ist mit dem Kind zu ihren Füßen?«
»Osso?«
»Osso – heißt er so?«
»Was ist mit ihm?«
»Warum haben Sie ihn so gemalt, so ganz in Schwarz?«
»Er war schwarz.«
Max betrachtete die Gestalt. Das Kind konnte nicht älter als vier
Weitere Kostenlose Bücher