Todesritual: Thriller (German Edition)
den Hotels am Playa Ancón oder auf den Tabakfarmen und Fabriken am Fuße der Berge anzutreten. Max und Benny fuhren im ersten Morgengrauen an den Arbeitern vorbei, die in Formation durch die Kopfsteinpflasterstraßen liefen, Männer und Frauen aller Altersstufen, die in zusehends länger werdenden Zweierreihen aus der Stadt zogen. Und sie sangen: postrevolutionäre Arbeiterlieder, die eigentlich dazu erdacht waren, die Stimmung zu heben und die Moral zu stärken, aber so leise und so trauernd vorgetragen wurden, dass die feurigen Hymnen an die Solidarität des Proletariats und die patriotische Pflicht wie Grabgesänge daherkamen, Lamenti an ein vergessenes Ideal. Die marschierende Arbeiterschaft klang wie eine geschlagene, aber doch stolze und ehrenvolle Armee auf dem Weg in die Heimat.
Max fuhr den flaschengrünen 1953er DeSoto Firedome, den Savón mit Schlüssel im Zündschloss und vollem Tank vor seinem Haus abgestellt hatte. Benny hatte sich in Schale geschmissen, er trug ein Kleid mit Sonnenblumendruck und weißer Rüschenbordüre, das an einer Frau seines Alters prüde und altmodisch gewirkt hätte, das er aber mit ganz eigenem Stil zur Geltung brachte. Er hatte sich dunkler geschminkt und versteckte die genähte Wunde unter den glatten schwarzen Haaren einer Perücke, um die er ein Kopftuch gebunden hatte, das farblich zu dem breiten braunen Ledergürtel passte, den er um die schmale Taille trug.
Normalerweise durchschaute Max auch die überzeugendsten Transvestiten mit einem Blick auf ihre Hände und Handgelenke – die immer zu breit und zu kräftig waren –, aber Benny hätte ihn selbst im hellen Tageslicht getäuscht: Seine unbehaarten Hände waren schmal und schlank, die Knöchel kaum zu erkennen, die Finger fein und dünn mit falschen roten Nägeln, den Nägeln einer Frau, die nicht arbeiten musste. Benny sah besser aus als gut: Er war fast perfekt.
»Was ist los zwischen dir und Nacho?«, fragte Max.
»Ist privat.« Seit sie losgefahren waren, war Benny niedergeschlagen und still. »Wir wollen nicht über ihn reden, okay?«
»Gern«, sagte Max. Er schaltete das Radio ein und drehte von einem Kanal zum nächsten, fand aber nur verschiedene Varianten kubanischer Musik und keine Nachrichten. Er schaltete es wieder aus.
Der schwarze Himmel verblasste zu Blau, die Sonne malte rote und rosafarbene Pinselstriche darauf, der Horizont war in heißes Gold getaucht. Die letzten Sterne glitzerten am Himmel, der Halbmond verblasste zu einer schemenhaften Silhouette. Die Landschaft war in dichten, seidigen Morgennebel gehüllt, in dem Regenbögen und kaleidoskopische Formen erschienen, als er die ersten, sanften Lichtstrahlen einfing. Sie fuhren an einer Reihe von Königspalmen vorbei, deren schlanke, blassgrüne Stämme gut fünfzehn Meter hoch aufragten. In den grünen Kronen mit den gezähnten, länglichen Blättern saßen Vögel, die zu ihnen herunterzwitscherten.
Max kurbelte das Fenster herunter. Die Luft war klar und kühl und roch nach Minze. Er atmete tief ein und behielt die Luft lange in der Lunge.
»So ein schönes Land«, flüsterte er leise. »Was für eine Schande.«
Das Caille Jacobinne war leicht zu finden, weil es unmöglich zu übersehen war – genau wie Savón es beschrieben hatte. Es war nicht nur das einzige Gebäude weit und breit, es war auch so groß wie ein Flugzeughangar. Auf die Wände war die haitianische Flagge gemalt: zwei horizontale Streifen, oben Blau, unten Rot, in der Mitte ein weißes Quadrat mit dem Wappen und dem Motto des Landes: »L’Union Fait la Force«.
Von der Hauptstraße bogen sie nach links ab auf einen unbefestigten Feldweg, der durch eine Wiese führte. Er wurde breiter, je näher sie dem Haus kamen, und weitete sich schließlich zu einem großen, runden Platz aus festgebackener orangefarbener Erde, der das gesamte Gebäude umgab.
»Wo fahren wir hin?«, fragte Benny.
»Ich bin Tourist, schon vergessen? Ich will was besichtigen.«
Benny schnaubte verächtlich und verschränkte die Arme vor der Brust, als Max aus dem Wagen stieg.
Auf dem Vorplatz standen die Überreste eines Spielplatzes, ein halb demontiertes Klettergerüst, Schaukeln, eine Rutsche, der die Plattform und die Hälfte der Sprossen abhandengekommen waren. Ein Stück weiter ein leerer Hühnerstall aus Holz und Draht, das Holz war schwarz geworden, der rostige Draht hatte die Farbe der Erde angenommen. An einem Pfahl stand ein graues Maultier. Es drehte den Kopf, schaute Max entgegen und
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