Todesritual: Thriller (German Edition)
oder fünf sein.
»Was ist aus ihm geworden?«
»Er hat diesen Ort vor langer Zeit verlassen. Ist nach Santiago gegangen, wie ich hörte. Hat sich mit schlechten Leuten eingelassen.«
»Was meinen Sie mit schlechten Leuten?«, fragte Max.
»Leute, die schlecht sind und nicht gut.«
Max betrachtete erneut das Wandgemälde und studierte das gute Dutzend Gesichter um Vanetta. Der Mann direkt hinter ihr, fast in der Mitte, hatte helle Haut. Aber er fiel nicht nur wegen seiner Hautfarbe auf, sondern auch weil sich seine Kleidung von der der anderen abhob: Er trug einen grauen Mechanikeroverall statt alter Lumpen. Und er war ein klein wenig größer dargestellt als die anderen. Als Max ein paar Schritte zurücktrat, erkannte er, dass der Mann tatsächlich ein Stückchen vor den anderen stand, näher bei Vanetta.
Er widmete sich wieder der Gestalt des Kindes. Durch die matte schwarze Farbe schimmerten hellere Umrisse, Andeutungen von Gesichtszügen, ein Kopf und Augen und Finger.
»Sie haben ihn übermalt«, sagte Max.
Der Maler legte den Pinsel auf dem Farbtopf ab, der ihm am nächsten stand, und drehte sich zu Max um. Dann nahm er den Saum seines Schleiers zwischen die Finger und hob ihn an, sodass zuerst Mund und Nase, dann sein ganzes Gesicht zu sehen waren.
Überrascht und verwirrt trat Max einen Schritt zurück.
Der Maler war ein alter Mann, seine dunkle Haut schlaff und faltig, sein Bart schneeweiß. Seine Augen schwammen in ihren Höhlen, ihr Blick schweifte ziellos umher, wie zwei Kugelkompasse, die sich an wandernden Polen zu orientieren versuchten.
Der Mann war blind.
»Es tut mir leid. Das wusste ich nicht«, sagte Max. »Seit wann …? Wie machen Sie das? Wie können Sie malen? «
»Aus der Erinnerung.«
Max betrachtete noch einmal die Wände, dann wieder die Turmspitze, an der der Mann gearbeitet hatte – wie fein und detailliert sie war. Neben seinem Staunen und seiner Verblüffung empfand er Schuldgefühle.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»In der Nacht, nachdem ich dieses Bild fertiggestellt hatte, goss mir Osso Batteriesäure in die Augen, während ich schlief«, sagte er.
»Warum?«
»Mein Werk gefiel ihm wohl nicht.«
»Was gefiel ihm daran nicht?«
Der Maler antwortete nicht. Max betrachtete die Gestalt, den Kopf, starrte in die Schwärze, konzentrierte sich auf die schwachen Umrisse dahinter, versuchte die Züge des Kindes zu erkennen, aber es gelang ihm nicht.
»Was ist aus ihm geworden?«
»Er ist weggelaufen. Keiner weiß, wo er ist. Er ist verschwunden.«
»War mit seinem Gesicht etwas nicht in Ordnung?«, fragte Max.
»Sein Gesicht war noch das Geringste. Mit diesem Kind war gar nichts in Ordnung.«
»Es tut mir leid«, sagte Max.
»Mir nicht«, entgegnete der Maler. »Kein Mensch kann aufhalten, was ihn erwartet.«
40
Als sie wieder losfuhren, redete Benny immer noch nicht. Er war mit inneren Tumulten beschäftigt und knabberte sich auf der Unterlippe herum, was Lippenstift auf seinen Zähnen hinterließ. Max schaute auf sein Mobiltelefon: immer noch kein Empfang.
Im Kopf ging er durch, was er im Caille Jacobinne in Erfahrung gebracht hatte.
Wie wahrscheinlich war es, dass das Kind auf dem Wandgemälde und der Mann, der Eldon und Joe ermordet hatte, ein und dieselbe Person waren – Osso? Vanetta hatte ihn gekannt. Der Darstellung auf dem Gemälde nach zu urteilen, hatte der Junge sehr an ihr gehangen, und sie an ihm. Sie hatte ihn beschützt, ihn vielleicht sogar geliebt, während alle anderen ihn mieden. Osso hatte schon damals einen Schaden gehabt, ein psychotisches Kind mit einem Hang zu sadistischer Gewalt: Er hatte dem Maler das Augenlicht genommen, das wichtigste Organ des Künstlers. Und dann war er verschwunden. Hatte Vanetta ihn mitgenommen?
Der Mörder hatte eine ausgeprägte Hasenscharte. Vielleicht war er mit einer noch schlimmeren Deformation geboren worden, einer Gaumenspalte, die später operiert worden war. Vielleicht hatte Vanetta das Geld für die Operation gegeben. Er war ihr dankbar gewesen, dankbar für sein neues Gesicht, für den Neuanfang im Leben, und ihre Bande waren noch enger und stärker geworden.
Als Vanetta erkrankte, schickte sie Osso nach Miami, um in ihrem Namen alte Rechnungen zu begleichen. Und wie hätte er ihr die Liebe, die sie ihm geschenkt hatte, besser vergelten können, als dadurch, dass er diejenigen tötete, die ihr das Herz gebrochen hatten?
Aber das war reine Spekulation. Und es fühlte sich nicht richtig an. Ganz
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