Todesritual: Thriller (German Edition)
Abrutsch begonnen und ganze zwölf Jahre gedauert, bis zu diesem Punkt, an dem er jetzt stand. Jedes Mal, wenn er geglaubt hatte, sich gefangen zu haben, dass die Bahn nach unten nicht mehr ganz so steil war, hatte es einfach nur ein wenig länger gedauert, bis er den nächsten Tiefpunkt erreichte. Es hätte in seiner Macht gestanden, all das zu verhindern, wenn er das Richtige getan hätte, aber er hatte in seinem ganzen Leben nie das Richtige getan – immer nur mit den besten Absichten das Falsche, immer und immer wieder.
Doch hier würde der Abrutsch enden. Hier, und schon sehr bald.
Er spürte es.
45
Es war Nachmittag, als sie Santiago de Cuba erreichten, trotzdem lag die Stadt fast im Dunkeln. Am Himmel hing eine solide Masse aus undifferenzierten Ansammlungen in Grau, durch die die Sonnenstrahlen nur mit Mühe drangen, ein lebloses Zwielicht. Die Straßenlaternen, die noch heil waren, brannten, an jeder Straßenecke eine, und alle Autos, die über Scheinwerfer verfügten, hatten sie eingeschaltet. Alle anderen behalfen sich mit Taschenlampen, die mit Klebeband auf der Motorhaube befestigt waren.
Sie fuhren am Denkmal von Antonio Maceo vorbei, das den Helden des kubanischen Unabhängigkeitskrieges auf einem steigenden Pferd darstellte, wie er über die Schulter hinweg zurück in Richtung Straße schaute, den Arm ausgestreckt, die Hand in herbeiwinkender Geste, als wolle er alle Neuankömmlinge in der Stadt begrüßen. Vor ihm ragten dreiundzwanzig riesige Machetenklingen in spitzem Winkel aus der Erde und symbolisierten Angriff oder Verteidigung, je nach Meinung und Blickwinkel des Betrachters. Mehrere Touristen wurden eilig von ihren Reiseführern, die ängstliche Blicke gen Himmel warfen, die Stufen hinuntergescheucht – ein Blick und eine Geste, die sich bei allen Passanten auf der Straße wiederholten, während sie ein paar Schritte zulegten, als erwarteten sie Schlimmeres als nur Regen.
Max und Benny fuhren durch die Vororte, vorbei an maroden Steinhütten mit Rissen und Löchern in den Wänden und verzogenen Blechdächern, deren Fensterläden und Türen mit Schnur und Draht am Platz gehalten und verschlossen wurden. Ein Stückchen weiter kamen sie in eine etwas feinere Gegend mit eleganten, aber halb verfallenen Häusern aus der spanischen Kolonialzeit, deren fehlende Terrakottadachpfannen durch rostig orange gestrichenes Holz und Wellblech ersetzt worden waren.
Die zweitgrößte Stadt Kubas war anders als die größte. Die Bebauung war niedrig und hurrikantauglich. Hier lebten die Menschen Seite an Seite, nicht übereinander. Es gab keine hässlichen modernistischen Betonsilos, die die Illusion einer in makellosem Bernstein konservierten Stadt hätten zerstören können.
Max schaltete das Radio ein. Auf der Strecke durch die Berge hatte es keinen Laut von sich gegeben, und auch jetzt schwieg es. Nicht einmal ein Rauschen oder Fiepen drang aus den Lautsprechern.
Der erste Donnerschlag klang wie eine Explosion, der zweite, als würde gegen die Himmelspforten geschlagen, und der dritte, als wären sie aufgesprungen. Der Wagen vibrierte bei jedem Knall.
Zwei dicke Regentropfen platschten auf die Windschutzscheibe und klebten zäh und rund wie Eiweiß am Glas, bevor sie auseinandergerüttelt wurden, sich in mehrere Rinnsale teilten und nach unten in Richtung Scheibenwischer liefen.
Noch ein Donnerschlag, dann fiel der Regen heftig und stark, prasselte mit dem Geräusch einer Peitsche, die auf einen Haufen Münzen trifft, auf die Straße ein und trommelte auf das Auto wie eine Million winzig kleiner Bleifüße. Die Straßen wandelten sich von grau zu schwarz, setzten sich dann langsam in Bewegung, dann flossen sie dahin.
Als sie das Stadtzentrum erreichten, schossen die Blitze bündelweise über den Himmel und zeigten die Welt um sie herum in grellen, silbrig unterlegten Ausbrüchen von Farbe, wenn für den Bruchteil einer Sekunde hinter einem Vorhang aus langen weißen Regenspeeren grandiose Kirchen und Museen und Regierungsgebäude auftauchten.
Der Wolkenbruch wurde noch stärker. Im Schritttempo fuhren sie an einem Friedhof und einem Park vorbei, wo das Laub von den Zweigen gerissen wurde, die Zweige von den Bäumen und die Rinde von den Stämmen. Die Erde schwoll an und verflüssigte sich, Gras und Blumenbeete wurden mitsamt Wurzelwerk ausgeschwemmt und auf die Straße gespült.
Sie fuhren weiter, im Firedome machte sich der Geruch von alter Feuchtigkeit und staubigen Steinen breit. Es wurde
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