Todesritual: Thriller (German Edition)
vom Rücksitz aus, das Gesicht dicht an dem Drahtgitter.
Es war früher Nachmittag, und sie saßen seit einer guten Stunde in Rosa Cruz’ Suzuki und waren mit hoher Geschwindigkeit auf der Straße unterwegs, die die Provinzen Santiago und Guantánamo miteinander verband. Die Landschaft raste vorüber, und Max gab sich Mühe, etwas davon mitzubekommen, aber es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten.
Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen – war nicht gegangen. Nachdem Cruz mit ihm fertig gewesen war, hatte man ihn eine Etage höher geführt und in eine Einzelzelle geschubst. Kein Bett, eine helle Lampe, die die ganze Zeit brannte, Moskitos und Motten zur Gesellschaft, Wände und Fußboden glitschig vor Feuchtigkeit und Schimmel, ein Loch im Boden als Toilette. Er konnte sich unmöglich hinsetzen oder -legen, und so stand er da oder ging auf und ab. Sie hatten ihm die Armbanduhr abgenommen – genau wie den Gürtel und die Schuhe und alles andere, was er bei sich gehabt hatte –, sodass er nicht gewusst hatte, ob Tag oder Nacht war. Es war so still gewesen, dass er glaubte, völlig allein zu sein. Dann dröhnte plötzlich eine von Castros Reden in voller Lautstärke in den Korridor, eine nicht enden wollende Tirade in einer Kadenz, die zwischen wütend und sehr wütend rangierte. Max bezweifelte ernsthaft, dass die Menschen freiwillig stundenlang in der brütenden Hitze standen, um einer Hetzrede von derart epischer Länge zu lauschen, und schon gar nicht kaufte er ihnen den enthusiastischen Applaus und die aus voller Kehle geschmetterten Gesänge ab, die der Rede folgten. Die Stille, die hinterher einkehrte, war beinah glückselig gewesen. Doch als er sich gerade wieder an sie gewöhnt hatte, folgte die nächste Rede, noch lauter und noch länger als die erste. Max hatte sich die Finger in die Ohren gestopft, aber es hatte nichts genützt. So war es die ganze Nacht gegangen, die immer kürzer werdenden Momente der Stille abgelöst von immer lauter dröhnenden und immer länger werdenden Ansprachen des Jefe . Als Cruz am Morgen endlich erschienen war, um ihn abzuholen, hatte sie Ohrenstöpsel getragen.
Sie waren zurück zum Firedome gefahren, damit er seine Habseligkeiten einsammeln konnte. Er hatte die CDs, das Diagramm und seine Notizen geholt, und sie hatte alles zusammen mit den beiden Magnums und der Munition aus dem Handschuhfach in einem Rucksack verstaut.
Dann war sie mit ihm frühstücken gegangen. Er hatte bezahlt.
»Warum sprichst du nicht mit mir, Max?« Benny schlug mit der flachen Hand gegen das Gitter.
Rosa befahl ihm, sich richtig hinzusetzen und den Mund zu halten.
Max starrte aus dem Fenster.
Sie fuhren am Stützpunkt Guantánamo vorbei. Die Militärbasis war deutlich gekennzeichnet, ihr Name in weißen Blocklettern ausbuchstabiert, die einzeln auf Sockeln thronten, als handle es sich um eine exklusive Ferienanlage oder einen Golfclub. Ein hoher, mit Stacheldraht bewehrter Zaun zog sich kilometerweit um das Gelände. Vor dem Zaun standen nicht weniger hohe staatliche Reklametafeln, auf denen die imperialistische Aggression, imperialistische Gier, imperialistischer Imperialismus und Imperialisten im Allgemeinen gegeißelt wurden. Auf jeder dieser Tafeln prangte ein anderes Foto von Fidel Castro: der bärtige junge Revolutionär in Khakiuniform mit Käppi, mitten in einer Ansprache eingefroren, den anklagenden Zeigefinger zwischen Himmel und Publikum, auf seiner breiten Schulter eine Taube; der erfahrene Staatsmann, der mit dem Zeigefinger an der Schläfe nachdenklich in die Kamera schaut; der alte Tyrann, der über sein mittelloses und gebrochenes Volk herrscht, der Bart schütter und drahtig geworden, das Gesicht des Achtzigjährigen faltig wie eine Rosine. Es war, als nutze das Regime diese Reklametafeln, um herauszufinden, welches das definitive Foto seines Máximo Líder sein könnte, das geeignet war, überall plakatiert und an westliche Trendsetter und Postkarten-Sozialisten verscherbelt zu werden wie zuvor das Korda-Foto von Che. Fidel Castro wurde nach und nach zum Mythos transformiert.
Max schaltete das Radio ein. Er wollte Musik hören und drückte eine Stationstaste nach der anderen. Er fand Musik – das Intro zu »Strawberry Fields Forever« – und schaltete das Radio eilig wieder aus. Rosa Cruz unterdrückte ein Lachen.
Nacho Savóns Instruktionen folgend, parkten sie auf der Kuppe eines Hügels unweit des verlassenen russischen Wachturms mit Blick über den Strand
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