Todesritual: Thriller (German Edition)
bettelarmen Landsleute losgelassen wie hungrige Wölfe auf eine Schafherde. Da war niemand, der sie kontrollierte, keine Autorität, die wenigstens insgeheim die Daumen dafür drückte, dass alles gutging.
In einer Kneipe in der Nähe von Port-au-Prince hatte Boukman sich an Max herangeschlichen, ihm die Waffe aus dem Holster gezogen und sie ihm grinsend an den Kopf gehalten. Irgendjemand hatte das Foto geschossen.
Max hatte es später in einem der beiden Armeesäcke gefunden, in denen er die 20 Millionen Dollar nach Hause geschafft hatte. Auf die Rückseite hatte Boukman eine Nachricht geschrieben: »Du gibst mir Grund zu leben.«
Max wusste immer noch nicht, wie das gemeint war, aber eines wusste er mit Sicherheit: Umbringen wollte Boukman ihn nicht. Dazu hätte er in Haiti reichlich Gelegenheit gehabt.
Für Max war die Sache damit vorbei.
Er hatte das angesengte Foto in einem Bankschließfach deponiert und den Schlüssel ins Meer geworfen.
2002 fing Max wieder an, als Privatdetektiv zu arbeiten. Er schaltete eine Anzeige im Herald und bastelte sich eine Internetseite. Keine Woche später kam der erste Anruf, eine Frau wollte wissen, ob er auch Scheidungsfälle übernahm. Er hielt sich für ausreichend qualifiziert und sagte: »Ja. Was kann ich für Sie tun?«
Die Versicherung zahlte ihm 350 000 Dollar für das Haus. Das war alles, was er noch hatte.
4
Max braute sich einen vierfachen Bustelo-Espresso und trug die Tasse ins Arbeitszimmer. Er setzte sich, schaltete den Computer ein und wartete, bis er hochgefahren war. Der Schreibtisch war leer bis auf den Bildschirm, ein Telefon und ein Foto von ihm beim letzten Weihnachtsfest im Kreise der Familie Liston. Seit der Trennung von Tameka verbrachte er so gut wie alle Feiertage und Geburtstage bei ihnen. Joes Kinder sagten Onkel Max zu ihm.
Von seinem Schreibtisch aus schaute er über die Stadt: ein paar bunte Lichter in einem ockerfarbenen Meer aus Tausenden von Straßenlaternen. Sein Blick reichte bis zu den beleuchteten Bürohochhäusern, die die Skyline von Downtown Miami ausmachten. In wenigen Stunden würde er von der gleichen Stelle aus nur noch über eine langweilige, flache Ebene in harten Grau- und Beigetönen schauen, Beton, Glas und verlöschte Neonlichter. Für eine so berühmte und beliebte Stadt besaß Miami überraschend wenige Sehenswürdigkeiten. Es gab nichts, was diese Stadt auf Anhieb definierte, kein Symbol, das für sie stand – keine Freiheitsstatue, kein Weißes Haus, kein Hollywood-Schriftzug. Nur Strände, Hotels und Palmen – eine ganz gewöhnliche Stadt am Meer, wo es heiß war und die Menschen wohlhabend. Vielleicht war genau das ihr Markenzeichen. Vielleicht war das alles. Nur eine leere Leinwand. Miami war das, was man daraus machte.
Max wählte Emerson Prescotts Mobilnummer. Er hinterließ eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf, und schickte gleich noch eine E-Mail hinterher. Das machte er immer so: Alles schriftlich festhalten, falls ihn mal jemand verklagen wollte.
Als er fertig war, rief er seine Mails ab.
Nichts.
Am nächsten Morgen stand Max auf den Stufen, die zum Boxstudio führten, und schaute die 7th Avenue hinauf und hinunter. Auf beiden Seiten vernagelte Geschäfte, direkt gegenüber eine Reihe ausgebrannter oder vernagelter Wohnhäuser. Dahinter ein langer Streifen Ödland, nackte Erde, wild wucherndes Unkraut und Müllhaufen.
Eldon war am Dienstag, dem 28. Oktober, gegen Mittag erschossen worden. Am helllichten Tag. Irgendjemand musste etwas gehört oder gesehen haben.
Oder nicht?
An einem Ort wie Liberty City, wo ein falscher Blick eine Menge Ärger nach sich ziehen konnte, kümmerten die meisten Leute sich um ihre eigenen Angelegenheiten, was bedeutete, dass sie nur das sahen und hörten, was sie sehen und hören wollten, mehr nicht.
Und der Schütze – wahrscheinlich ein echter Profi, der alle Eventualitäten bedacht hatte, regelmäßig wiederkehrende Passanten zum Beispiel, und sich eine Zeit ausgesucht hatte, zu der es besonders ruhig war. Ganz bestimmt war er unauffällig geblieben. Vielleicht hatte ihn jemand gesehen, aber erinnern würde sich niemand an ihn.
Der Mörder, schlussfolgerte Max, war also aller Wahrscheinlichkeit nach schwarz und – nach den Fotos von Eldons Gesicht zu urteilen – etwas über eins achtzig groß.
Viel war das nicht, aber immerhin ein Anfang.
Er überquerte die Straße, um sich das Studio von Weitem anzusehen. Ein verblasstes Wandgemälde bedeckte die Fassade,
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