Todesritual: Thriller (German Edition)
seiner Zunge verloren hatte und der nie wieder würde sprechen können, sah der Mann, den die Einwohner von Liberty City als White Flight kannten, einigermaßen glücklich aus, denn auf dem kleinen Teil seines Gesichts, der trotz Verband noch zu sehen war, lag ein Lächeln. Er hatte ein paar gute Schmerzmittel bekommen und saß mit einem Haufen Kissen im Rücken da, angeschlossen an Infusionsflaschen mit Kochsalzlösung und Blut sowie an einen Monitor.
»Kann sein, dass er einschläft, während Sie mit ihm reden. Nehmen Sie es nicht persönlich. Liegt an den Schmerzmitteln«, sagte die Krankenschwester, eine Latina Mitte zwanzig namens Zulay García. Zierlich, dunkle Haare, dunkle Augen. Verlobt oder verheiratet, wie an dem hellen Streifen an ihrem Ringfinger unschwer zu erkennen war.
Max stellte das nur fest, ohne Hintergedanken. Sie war entschieden zu jung für ihn – wie praktisch alle attraktiven Frauen in Miami.
»Mr. Flight? Dieser Mann ist Polizist. Er möchte mit Ihnen besprechen, was Ihnen widerfahren ist. Ich geben Ihnen Papier und Bleistift, und Sie schreiben alles auf, so gut es geht, okay?«
White Flight nickte langsam, das gesunde Auge auf Max gerichtet, zwinkernd.
Max hatte sich nicht als Polizist vorgestellt. Er hatte sich einfach nur verhalten wie einer, seit er das Jackson Memorial Hospital betreten und gebeten hatte, das Schussopfer sehen zu dürfen. Schwierig war das nicht gewesen. Er hatte immer noch das Auftreten, den selbstherrlichen Gang, den Blick, der zu lange haften blieb, die sachliche Redeweise, einen Punkt nach dem anderen abhakend, und den strengen, offiziellen Tonfall. Die Verkörperung seines altes Ichs gelang ihm so gut, dass er weder Dienstmarke noch Waffe brauchte, um sich Gehör zu verschaffen.
Schwester García setzte sich neben White Flight aufs Bett und hielt den Stift in seiner Hand, die auf dem Block ruhte.
»Haben Sie die Person gesehen, die auf Sie geschossen hat?«
White Flight gab ein gurgelndes Röcheln von sich, das Auge trat ihm fast aus der Höhle, nur das etwas unheimliche Lächeln blieb wie aufgeklebt.
»Nicht sprechen«, ermahnte ihn die Schwester sanft, aber bestimmt. »Schreiben Sie es auf.«
Max beobachtete, wie White Flight langsam einen einzigen krakeligen Buchstaben aufs Papier malte. Jeder Strich und jeder Haken brauchte eine Ewigkeit.
Ein großes J .
»Mann oder Frau?«
Der Herzmonitor piepte etwas schneller, als der Patient wieder zu röcheln anfing und mit den Beinen ausschlug.
»Bitte.« Schwester García legte ihm die Hand auf die Brust. »Nicht wütend werden. Helfen Sie diesem Mann, damit er Ihnen helfen kann.«
White Flight schnaubte verächtlich, bevor er wieder langsam und krakelig zu schreiben begann.
M.
»Schwarz oder weiß?«
Ein wackliges S.
»Was wissen Sie noch über ihn? Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
White Flight malte ein N .
»Und das Auto? Erinnern Sie sich an die Farbe?«
BR.
»Braun?«
Er malte einen Kreis um das J .
»Haben Sie das Fabrikat erkannt?«
Ein Kringel ums N .
»Ist der Mann, der auf Sie geschossen hat, ausgestiegen?«
Noch ein Kringel ums N .
»Wie viele Personen saßen in dem Wagen?«
Der Patient schrieb eine 2.
»Zwei? Sind Sie sicher?«
Er umkringelte das J .
Der Mörder hatte einen Komplizen.
»Hat der Mann, der auf Sie geschossen hat, den Wagen gefahren?«
N .
»Haben Sie den Fahrer gesehen?«
J.
»Mann oder Frau?«
?
»Sie wissen es nicht?«
White Flight malte einen Kringel um das Fragezeichen, dann schrieb er ein J .
»War der Fahrer schwarz oder weiß?«
W .
»Fällt Ihnen noch etwas ein zu dem Mann, der auf Sie geschossen hat? Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
White Flight schrieb ein Wort.
HASENLIPPE .
»Er trug einen Schnurrbart?«
Ein dritter Kringel ums N, dann einer um HASE .
»Er hatte eine Hasen scharte ?«
J .
Eine handfeste Spur.
Aber White Flight war noch nicht fertig mit Schreiben.
Max wartete.
Der Herzmonitor piepte wieder schneller, während der Bleistift übers Papier wanderte.
Noch zwei Wörter.
VOGEL HEMD .
»Der Schütze hatte Vögel auf dem Hemd?«
White Flight nickte.
»Vielen Dank, Sir. Sie haben mir sehr geholfen. Ich wünsche Ihnen eine schnelle Genesung.«
Wieder schnaubte White Flight.
Schwester García begleitete Max aus dem Zimmer.
»Was passiert mit ihm, wenn er rauskommt?«
»Er hat keine Krankenversicherung, keine Verwandten, keine Sozialversicherungsnummer. Was glauben Sie?«, fragte sie. »Sobald er wieder laufen
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