Todesritual: Thriller (German Edition)
Ton über die Lippen gebracht hatte, als er dem Boss endlich persönlich gegenüberstand. Dabei hatte er Springsteen sagen wollen, was seine Musik ihm bedeutete, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken, und er brachte nicht mehr zuwege als ein nervöses Lächeln und einen Handschlag. Der Fairness halber sei gesagt, dass sich Bruce bei Joe für sein Kommen bedankte und dass er es ernst zu meinen schien. Joes Töchter hatten später gefragt, ob das Max sei auf dem Bild, als »Onkel Max noch Haare hatte«. Joe hatte laut losgebrüllt vor Lachen.
Die ganze Familie hatte sich um das breite Sofa versammelt. Lena saß in der Mitte, die Arme um die Zwillingstöchter gelegt, die rechts und links neben ihr lagen, die Köpfe in ihrem Schoß. Zwei ihrer Söhne, Dwayne und Dean, saßen auf den Armlehnen, hinter ihnen stand Jet in der Ausgehuniform der Polizei. Er sah genauso aus wie sein Vater vor vierzig Jahren. Es war unheimlich und irritierend, ihn dort zu sehen. Max musste an seine erste Begegnung mit Joe denken. Eldon hatte die beiden im Umkleideraum miteinander bekannt gemacht.
»Max, das ist dein neuer Partner«, hatte er gesagt. »Sieh ihm zu, hör auf ihn und lerne. Listen to Liston – Scheiße, ich sollte in die Werbung gehen!«
Eldon und Joe. Beide tot.
Max betrachtete sie, Joes hinterbliebene Familie, sein Vermächtnis, der Beweis, dass es in der Welt noch etwas Gutes gab. Lenas Augen leuchteten auf, als sie Max sah, als wäre ausgerechnet er der Mensch, den zu sehen sie sich am meisten gewünscht hatte.
Er wusste nicht, was tun.
Wo anfangen?
Was sagen?
Bei der Polizei hatten sie ihm beigebracht, mit dem Tod umzugehen. Und er hatte gute Lehrer gehabt. Er war mit dem Tod vertraut geworden, hatte gelernt, ihn überall zu erwarten, wo mit ihm zu rechnen war: hinter einer verschlossenen Tür oder einer dunklen Straßenecke, unter dem Armaturenbrett eines parkenden Wagens. Dann hatte er gelernt, ihn am Morgen zu begrüßen, wenn er aus dem Haus ging, und ihm abends, wenn er heimkehrte, den Finger zu zeigen. Irgendwann war der Tod ihm gleichgültig geworden. Das hatten sie ihm nicht beigebracht. Das war nicht nötig gewesen. Es war ganz von allein passiert, dieses Verschwinden einer körperlichen Reaktion, die Fühllosigkeit im Angesicht des Schreckens. Der Tod war etwas, das den anderen passierte: den Menschen, an deren Türen er klopfte, um ihnen mitzuteilen, dass ihre vermissten Angehörigen tot waren; Polizisten, die im Dienst starben. Andere Leute.
Die Stille war erdrückend. Es war nicht nur still, es war der totale Gegenpol zu laut, ein Ort, an dem keine Geräusche existierten, an dem kein Geräusch die Chance hatte zu erklingen.
Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus. Seine Kehle war versiegelt, seine Zunge eine Skulptur aus Beton. Seine Lippen formten die Worte, die er dachte und sagen wollte – wie ein Fisch, der an der Luft ertrinkt.
Dann erhob sich Ashley, eine der Zwillinge, von der Seite ihrer Mutter, kam zu ihm und schlang die Arme um ihn. Sie drückte ihn fest an sich. Er senkte den Kopf und küsste sie aufs Haar. Eine Träne, die er nicht gespürt hatte, fiel aus seinem Auge in ihre Locken. Ashleys Schwester Briony kam dazu und drückte Max nicht weniger fest von der anderen Seite. Dann kam Lena zu ihm, legte die Arme um ihn und vergrub ihren Kopf an seinem Hals. Die drei Jungs stellten sich dazu. Einer nach dem anderen gesellten sich alle Anwesenden zu der Familie, und um Max wurde es dunkel – doch es war keine freudlose, einsame Dunkelheit, sondern eine respektvolle, als wollte das Licht sich verneigen.
Er war wieder mit Joe im Umkleideraum. Er erinnerte sich, wie sein zukünftiger Partner ihn schon damals schwer beeindruckt hatte: wie er Eldon angesehen hatte, nicht mit dem ehrfürchtigen Arschkriecherblick, den alle anderen aufsetzten, sondern mit versiertem Misstrauen und Skepsis und gerade genug Respekt, um sich keinen Rüffel einzuhandeln. Joe war immer höflich, sogar zu Rassisten. Das war sein Ding, seine Art, mit Menschen umzugehen. Lass dich nie auf deren Niveau herab, schau immer von mehreren Stufen weiter oben auf sie runter. »Bitte« und »Danke« zu allen. Max musste an den ersten richtigen Satz denken, den Joe im Streifenwagen zu ihm gesagt hatte: »Du bist Eldon Burns’ Schützling, der Boxer? Erwarte bloß keine Sonderbehandlung von mir, Kleiner. Hier auf den Straßen werden wir gehasst, von allen. Hier sind wir eine eigene Rasse.
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