Todesritual: Thriller (German Edition)
völlige Orientierungslosigkeit. Die Himmelsrichtungen waren durcheinandergeraten, die Erdanziehungskraft neu ausgerichtet worden. Noch vor wenigen Stunden hatten sie zusammen gegessen und geredet wie zwei ganz normale Männer an einem freien Abend. Oben in der Ecke des Fotos sah er den Rand einer Speisekarte aus dem Mariposa . Das war das letzte Mal gewesen. Sie würden nie wieder zusammensitzen.
Max spürte nichts.
Keine Trauer, keine Wut – überhaupt keine Gefühle.
Die Trauer kam später, das wusste er. Über den Tod eines geliebten Menschen kam man niemals hinweg. Man machte Platz für die Leere und lernte, damit zu leben.
Er wollte Lena anrufen, Joes Frau, und er wollte bei der Familie sein.
Er musste an Joes Kinder denken. Er musste daran denken, dass Joe nur sieben Monate vor der Pension gestanden hatte. Er musste an Joes Enkelkinder denken, die er jetzt nicht mehr kennenlernen würde.
Dieser Name.
Vanetta Brown.
Noch immer nur ein vages Läuten, eine weit entfernte Glocke im Nebel der Erinnerung.
Joe hatte ihm gerade erzählen wollen, wer Vanetta Brown war. Dann war er erschossen worden.
Durchs Auge.
Erschossen wie Eldon.
Erschossen von Eldons Mörder.
Die Bullen waren in weniger als einer Minute am Tatort gewesen. Vier hatten sich auf ihn gestürzt, ihn zu Boden gedrückt, ihn gefilzt und in Handschellen gelegt. Um sie herum schiere Panik. Die vermeintlichen Monster waren voller Angst geflohen. Das echte war davongekommen.
Viel Neues hatte sich die Polizei von Miami seit seiner Zeit nicht einfallen lassen. Immer noch der gleiche alte Scheiß. Ein langweiliges Drehbuch. Steck den Verdächtigen in ein Zimmer und lass ihn zwei bis drei Stunden allein. Lass ihn schmoren in dem, was er getan hat, gib ihm einen Vorgeschmack auf die Haft. Derweil wird er beobachtet und auf verräterische Zeichen analysiert: Zuckt und zappelt er, weint er oder schläft er? Das entscheidet über das Auftreten: sanft oder hart, laut oder leise, Mitgefühl oder Aggressivität, guter Bulle/böser Bulle, guter Bulle/gleichgültiger Bulle, böser Bulle/noch böserer Bulle. Tatsächlich funktionierte das nur bei Anfängern. Altgediente Profikriminelle wussten, dass sie ohnehin auf dem Weg in den Knast waren, und spielten das Spielchen nur noch aus Spaß mit, um das letzte bisschen Freiheit noch etwas auszukosten.
Manche Polizisten liebten es, ihre geistigen Fähigkeiten mit denen der Verdächtigen zu messen und ihnen Fallen zu stellen, bis sie sich selbst belasteten. Meist waren diese Männer großartige Kreuzworträtsellöser und Schachspieler, aber zu dumm fürs FBI. Max und Joe hatten für Verhöre von epischer Länge nie die Geduld gehabt, vor allem nicht Max. Wenn er sicher war, dass sie den Richtigen hatten, der Typ aber den Schlaumeier gab oder auf Zeit spielte, hatte er das Geständnis mit Hilfe eines Beutels Orangen aus ihm herausgeholt. Wenn keine Orangen zur Hand gewesen waren, hatte er ein Telefonbuch genommen. Nicht das von Miami, das war zu dünn. Er hatte die großen Städte bevorzugt, Los Angeles oder New York. Dicke Dinger, maximale Schlagwirkung, minimale Prellungen.
Er würde schnurstracks in den Knast wandern, und die Polizei würde bis auf den letzten Heller verklagt werden, wäre er heutzutage Polizist und würde sich so etwas erlauben. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit Joe vor einem Monat. Sie hatten darüber geredet, dass die Scheidungs- und Alkoholraten bei der Polizei enorm gesunken waren. Sie hatten das darauf zurückgeführt, dass die Polizisten heutzutage nach traumatischen Erlebnissen – insbesondere nach Schießereien mit Toten – psychologisch betreut wurden. Joe hatte gewitzelt, dass Max das gar nicht gefallen würde, dass er in der Armee besser aufgehoben wäre, in der Waterboarding-Einheit.
Max hatte gelacht, und die Erinnerung machte ihn auch jetzt schmunzeln.
Einen kurzen Augenblick lang.
Dann spürte er den Schmerz tief drinnen – sehr tief drinnen. Als hätte er irgendwo in seinem Inneren eine chirurgische Naht zum Platzen gebracht.
Joe war nicht mehr da.
Ihm fiel auf, dass die Klimaanlage wieder lief. Als sie ihn hereingeführt hatten, war es kalt gewesen. Dann hatten sie die Klimaanlage abgeschaltet, und in dem kleinen Raum war es drückend heiß geworden. Ein extrem langweiliges Drehbuch. Jetzt war es wieder kühl, angenehm kühl. Das Deckenlicht war ein wenig heller geworden.
Das Verhör würde wohl bald beginnen.
Ein groß gewachsener, kräftig gebauter Latino
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