Todesritual: Thriller (German Edition)
Liebesschnulzen, was ihn überraschte, aber dann wurde ihm klar, dass wohl auch große Geister Zerstreuung brauchten. Er wanderte an den Regalen entlang bis zum Fenster. Auf dem untersten Brett standen, locker nebeneinander, mehrere Exemplare von Black Power in the Sunshine State . Aus einem ragte ein Stück Papier.
Es war eine Grußkarte des Verlegers.
»Für Vanetta, mit den besten Wünschen an diesem besonderen Tag! Antoine.«
Antoine Pinel, vermutete Max, Verleger und Inhaber der Cuban X-Press.
Auf der Karte stand die Anschrift: Centro de Negocios, Miramar, Habana .
Er schob sich die Karte in die Hemdtasche und suchte weiter. Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf einen kleinen Fernseher und einen alten Videorekorder auf einem weißen Ständer. Bis vor Kurzem war alles, was mit Video zu tun hatte, in Kuba verboten gewesen, was die Leute nicht davon abgehalten hatte, sich die Geräte auf dem Schwarzmarkt zu besorgen oder von Verwandten, die zu Besuch kamen. Raúl Castro hatte das Gesetz geändert, und so gab es in Elektronikgeschäften nun auch DVD-Spieler und Videokameras zu kaufen, allerdings zu Preisen, die bei einem Jahresgehalt anfingen, womit die Aufhebung des Verbots rein theoretischer Natur war. Max suchte den Videorekorder nach dem Zeichen des Abakuá ab, fand aber keines.
Er ging die Videokassetten durch: kubanische Seifenopern, Dokumentarfilme und Kochsendungen, dazwischen Die Bill Cosby Show , mehrere Folgen Oprah aus den letzten fünfzehn Jahren, ein paar Spike-Lee- und Denzel-Washington-Filme und fast alles mit Will Smith, einschließlich Wild Wild West . Offenbar war sie ein unerschütterlicher Fan. Er verglich die Handschrift auf den kubanischen mit der auf den amerikanischen Kassetten. Sie waren eindeutig verschieden: Erstere eine schwer lesbare Schreibschrift, Letztere Großbuchstaben in Blockschrift – eindeutig eine männliche Schrift. Irgendjemand hatte für sie im amerikanischen Fernsehen Sendungen aufgenommen, und zwar über eine sehr lange Zeit, denn die Schrift auf den älteren Kassetten war verblasst.
Als Nächstes kam der Flur, von dem vier Türen abgingen.
Er arbeitete sich von links nach rechts vor.
Eine kleine, vollgestopfte Küche, in der man sich kaum umdrehen konnte. Kühlschrank und Schränke leer, der Herd roch nach kaltem Fett und Putzmitteln.
Das Badezimmer war komplett ausgeräumt. Keine Kosmetikartikel, kein Toilettenpapier im Halter. Er schaute in und hinter den Spülkasten. Nichts versteckt.
Die dritte Tür führte in ein einfach eingerichtetes Arbeitszimmer: ein Schreibtisch mit Schreibmaschine und Lampe, der Stecker aus der Steckdose gezogen, ein Holzstuhl mit einem Kissen, das an der unteren Rückenlehne festgebunden war. Über dem Schreibtisch eine Pinnwand, auf der sich die sonnengebleichten Umrisse dessen abzeichneten, was einst dort gehangen hatte.
Zuletzt das Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, also schaltete er das Licht ein. Das Zimmer war klein und vollgestellt. Die vier Möbelstücke – ein schmales Bett mit Nachttisch und ein zweitüriger antiker Kleiderschrank aus Eiche mit passender Kommode – nahmen fast den ganzen Raum ein.
Die Kommode war leer, genau wie der Kleiderschrank, in dessen Tür ein Spiegel hing. Keine Kleider, keine Bügel, keine Lebensmittel, keine Toilettenartikel, kein Koffer.
Er schaute hinter und unter den Möbeln nach. Nichts.
Als er die Nachttischschublade aufzog, rollte ihm etwas Weißes entgegen: ein kleines Tablettenröhrchen mit kindersicherem Verschluss.
Er las das Etikett: Zofran, hergestellt von GlaxoSmithKline.
Der Name kam ihm bekannt vor, er wusste aber nicht woher. Das Röhrchen war leer. Er steckte es ein.
Sie war ausgezogen. Warum? Und wohin?
Als er aus dem Zimmer ging, blieb er an der Tür stehen und schaute sich noch einmal um.
Hatte er etwas übersehen?
Ja, hatte er. Das Arbeitszimmer: Er hatte nicht hinter dem Schreibtisch nachgeschaut.
Er ging nach nebenan, stellte die Schreibmaschine auf den Fußboden und schob den Schreibtisch zur Seite. Auf dem Fußboden stand, mit dem Gesicht zur Wand, ein Foto. Wahrscheinlich war es von der Pinnwand gefallen.
Max hob es auf und drehte es um.
Zuerst ergab das, was er da sah, keinen Sinn. Eine Leere überkam ihn. Die totale Abwesenheit von Gedanke oder Gefühl, eine Taubheit des Geistes.
Er ließ sich am Schreibtisch nieder, die Taschenlampe in der Hand, die auf das Foto leuchtete. Es zeigte zwei Menschen, einen Mann und eine Frau. Sie standen
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