Todesritual: Thriller (German Edition)
irgendwo auf der Straße, beide lächelten und hatten einander den Arm um die Schultern gelegt. Die eine war Vanetta Brown – sehr viel älter als die stolze, kämpferische Frau, deren Gesichtszüge er sich eingeprägt hatte, aber die Zeit hatte es recht gut mit ihr gemeint. Sie trug einen Jeansrock und eine schwarze Bluse, das grau gesträhnte Haar zu Cornrows geflochten. Der Mann an ihrer Seite war größer und dunkler als sie, und zwölf Jahre jünger. Max wusste um den Altersunterschied, weil er von beiden wusste, wann sie geboren waren. Weil er wusste, wer der Mann war. Er hatte ihn sehr gut gekannt, zumindest hatte er das geglaubt.
Joe Liston.
Max schloss die Augen, atmete tief durch und schaute noch einmal hin. Der Lichtstrahl zitterte wie Wackelpudding.
Das Foto war mindestens zehn Jahre alt: Joe war jünger und sehr viel schlanker, sein Haar an den Seiten kurz geschoren, so wie er es getragen hatte, als er noch genug davon besaß, um mit der Kahlköpfigkeit zu flirten.
Max verstand die Welt nicht mehr.
Joe war hier gewesen, in Kuba, um Vanetta Brown zu besuchen.
Warum? Waren sie Freunde gewesen? Liebhaber?
Max dachte an sein letztes Gespräch mit Joe zurück. Er erinnerte sich an Joes Gesichtsausdruck, nachdem er ihn gefragt hatte, ob er je in Kuba gewesen sei, und wie er unvermittelt das Thema gewechselt hatte.
Er bemerkte das kleine Stecknadelloch am Rand des Fotos. Er drehte es um, suchte nach einer Beschriftung oder einem Datum, aber da war nichts.
Der Mund war ihm trocken geworden. Er konnte nicht schlucken. Am liebsten hätte er die Wohnung noch einmal durchsucht, sämtliche Bücher aus den Regalen gezogen, aber er wusste, dass das nicht ging. Er hatte nicht die Zeit.
Er schaltete das Licht aus und öffnete die Wohnungstür einen Spalt breit, um zu prüfen, ob die Luft rein war.
War sie nicht.
Eine alte Frau im dunkelblauen Bademantel stand genau vor der Tür und sah ihm gerade ins Gesicht. Sie erschreckten sich beide. Die Frau schnappte nach Luft und trat einen Schritt zurück.
»Quién es usted ?«, flüsterte sie. Die Tür zur gegenüberliegenden Wohnung stand offen, Licht schien ins Treppenhaus. Und er hatte geglaubt, ganz leise gewesen zu sein.
Sie war klein, ihre Füße verschwanden unter dem Bademantel, und der hintere Saum schleifte über den Fußboden. Ihre grauen Locken wurden langsam weiß und umrahmten ein schmales Gesicht mit verzerrten Zügen, kalkweißer, faltiger Haut und hängenden Wangen.
»Quién es usted?«, fragte sie noch einmal, dieses Mal lauter. Ihre Stimme war klar und bestimmt und schien zu einer viel größeren und viel couragierteren Person zu gehören.
Max trat aus der Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Sie wich zwei Schritte zurück.
» Soy un amigo «, sagte er, so ruhig und so sanft es ihm möglich war.
»Americano?«
»Sí.«
»Policía americana?«
»No, no, señora. Soy un amigo.« Max ging auf sie zu, sodass sie in Richtung ihrer Wohnungstür zurückweichen musste. Sie stand zwischen ihm und der Treppe.
» No .« Sie schüttelte den Kopf. » Usted no es su amigo. No le conozco. « Ihre Stimme schallte durchs Stockwerk, ihr Echo scharf und metallisch.
»Habla inglés?«
Sie nickte und zog ihren Bademantel fester um sich.
»Ich bin ein Freund von Vanetta.«
Sie räusperte sich.
»Wie haben Sie hergefunden?«
»Sie hat mir die Adresse gegeben.«
»Das stimmt nicht«, sagte sie und drohte ihm mit dem Finger. »Das hat sie nicht getan. Sie hat nie Besuch. Nie hat sie Besuch.«
»Sie hat mir ihre Adresse gegeben«, wiederholte Max mit einem Achselzucken und streckte, Unschuld demonstrierend, die Hände vor, während er unauffällig einen Blick nach unten ins Treppenhaus warf. Er musste hier weg, aber dazu musste er erst an ihr vorbei. Sie war klein, er hätte sie leicht zur Seite schieben können. Dann würde sie die Polizei rufen. Teófilo konnte keinem Elefanten davonfahren, selbst wenn der Elefant stillstand. Also besser die Lage beruhigen und die Frau überzeugen, dass er die Wahrheit sagte.
»Sie hat Ihnen diese Adresse nicht gegeben«, sagte sie. »Sie hat sie niemandem gegeben. Wie sind Sie herkommen?«
»Mit dem Auto.«
»Draußen steht kein Auto.«
»Es steht hinterm Haus.«
»Sie lügen.«
»Nein.« Max trat einen Schritt vor in der Erwartung, dass sie zurückweichen würde, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie hatte keine Angst vor ihm.
»Woher haben Sie den Schlüssel?«
Sie war doppelt so laut und doppelt so
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