Todesrosen
verstehst das nicht, du bist zu naiv«, fauchte sie ihn an. »Du kapierst nicht, worüber du redest. Du wirst das nie kapieren, und du brauchst es auch nicht zu kapieren. Du brauchst mich bloß in Ruhe zu lassen.«
Janus verstummte. Er starrte auf den Fußboden. Er schloss die Augen. In der Küche lief das Radio, und leise Jazzklänge drangen zu ihnen herein. Aus der Grünanlage hinter dem Häuserblock hörte man Kinderstimmen. Die Zeit um sie beide schien stillzustehen. Erst nach langer Zeit begann sie, wieder zu sprechen, ruhig und beherrscht. Sie sprach, ohne die Augen zu öffnen, und Janus lauschte.
»Ich weiß, was du versuchst, für mich zu tun«, sagte sie, »und ich weiß es zu schätzen, wie lieb du bist und dass du mein Bestes willst, aber ich ertrage keine Einmischung, das halte ich nicht aus. Ich will mein Leben so leben, wie es mir passt. Ich will kein Mitleid, ich will keine Vorwürfe und keine Fragen. Ich will so, wie ich bin, in Ruhe gelassen werden.«
Wieder herrschte Schweigen. Die Stimmen der Kinder entfernten sich.
»Ich habe mir durchaus Gedanken gemacht«, fuhr sie schließlich fort, »aber ich habe vergessen, was eigentlich passiert ist. Falls denn irgendwas passiert ist. Muss immer etwas passiert sein? Muss es immer irgendwelche großartigen Gründe für etwas geben? Manchmal überlege ich, ob ich aufhören sollte. Freunde von mir haben es geschafft. Die meisten haben zwar wieder angefangen, aber einige sind jetzt total clean. Das würde ich bestimmt auch schaffen, ich könnte auf jeden Fall für eine kurze Zeit damit aufhören und nach ein paar Entzugstherapien vielleicht auch ganz und gar. Dann müsste ich mir einen Job suchen, aber was für einen? Soll ich noch zehn Jahre die Schulbank drücken? Als Kassiererin arbeiten? Mama hat sich ihr Leben lang für diese Kaufgenossenschaft abgerackert. Eigentlich kenne ich sie nur in ihrem Nylonkittel, und immer muss sie die Kundschaft anlächeln. Ist das vielleicht ein Leben? Was bringt einem so ein Leben? Einen Ehemann und Kinder? Mein Vater hat Mama und mich verlassen, als ich drei war, und sich seitdem nie wieder blicken lassen. Soll ich mir so einen Typ angeln? Mama und ihr neuer Mann haben zwei Kinder gekriegt, und ich war auf einmal gar nicht mehr vorhanden. Niemand hat sich um mich gekümmert, und ich habe mich auch um niemanden gekümmert. Ich will keine Einmischung, und ich ertrage es nicht, wenn sich jetzt Leute um mich kümmern, die mich früher links liegen gelassen haben.«
»Du hast dich um mich gekümmert«, sagte Janus.
»Du warst wie ich. Dich wollte keiner.«
»Ich hab aber nicht angefangen zu kiffen. Ich hab mich nicht verkauft.«
»So fängt es nicht an. Ich glaub nicht, dass irgendjemand vorsätzlich süchtig wird. Ich weiß nicht, wie das passiert. So nach und nach hört man auf, darüber nachzudenken. Es verschwindet alles irgendwie im Nebel, bis man eines Tages hochschreckt, weil man nicht mehr die Ader am Arm trifft. Was ist passiert? Wie viele Jahre sind vergangen? Wo bin ich die ganze Zeit gewesen? Doch dann vergisst man es sofort wieder.«
»Und dann kriegt man Aids.«
»Und dann ist man tot.«
Janus stand in der Räucherkammer und überlegte, ob er es über sich bringen würde, Herbert anzuzünden. Ob er ihn genug hasste, um ihn verbrennen zu lassen. Er erinnerte sich an Birtas Worte. Wieso war es so weit gekommen, dass er jetzt die Entscheidung über Leben und Tod eines Menschen treffen musste? Was war geschehen? Er wusste es selber nicht. Er wusste nur, dass er zwei Männer hasste, Herbert und Kalmann. Er wollte sich in irgendeiner Weise an denjenigen rächen, von denen er glaubte, dass sie für Birtas Tod verantwortlich waren.
Fünfundzwanzig
Es kursierten unterschiedliche Theorien darüber, wie Kalmann reich geworden war. Diejenige, die der Wahrheit wahrscheinlich am nächsten kam, bezog sich auf seine absolute Skrupellosigkeit in geschäftlichen Dingen. Er stammte nicht aus einer dieser wohlhabenden und mächtigen Familien Islands, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das politische Geschehen bestimmten und zu Geld gekommen waren, indem sie die einträglichsten Geschäfte wie den Ölimport, das Fischereiwesen und die Bauprojekte für die amerikanische Besatzungsmacht hübsch unter sich aufteilten. Er hatte auch nicht in eine reiche Familie eingeheiratet. Kalmann arbeitete sich aus dem Nichts empor und hatte keine einflussreichen Männer hinter sich, als er ins Wirtschaftsleben
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