TODESSAAT
habe versucht, es zu vergessen.«
»Du wirst es vergessen«, nickte er. »Und ich auch ... wenn alles vorbei ist. Aber ich kann dich nicht hier lassen, und ich muss es mit ihm zu Ende bringen.«
»Werde ich ihm begegnen?« Bei dem Gedanken wurde sie blass.
»Ja«, nickte Harry. Ein merkwürdiges Lächeln spielte um seine blutroten Augen. »Ja – und er dir!«
»Aber du lässt nicht zu, dass er mir wehtut?«
»Nein. Versprochen!«
»Dann bin ich bereit ...«
Eine Stunde zuvor war Trevor Jordan am Bahnhof Waverley Station in Edinburgh in den Schlafwagen nach London gestiegen. Er hatte keine konkreten Pläne. Gleich morgen früh würde er wahrscheinlich beim E-Dezernat anrufen und zusehen, ob er herausfinden konnte, woher der Wind wehte. Und wenn es ihm richtig schien, würde er ihnen wieder seine Dienste anbieten. Sie würden ihn überprüfen (unter diesen Umständen war das ja wohl zu erwarten) und natürlich alles über seine Erlebnisse mit Harry Keogh erfahren wollen. Aber er würde schon dafür sorgen, dass das Ganze seine Zeit dauerte. Bis dahin hatte Harry sich längst abgesetzt. Sollte Harry wider Erwarten doch noch hier sein, würde Jordan sich aus allem heraushalten, was gegen ihn lief.
Nicht aus Angst, sondern aus Respekt und Dankbarkeit ... ja, und wenn er ehrlich war, hatte er doch Angst vor ihm. Harry war Harry und dazu noch ein Vampir. So gesehen musste jeder, der nicht zumindest ein kleines bisschen Angst verspürte, verrückt sein.
Der Telepath hatte für ein Bett bezahlt, konnte jedoch nicht schlafen. Ihm ging zu viel durch den Kopf. Er war ein Mann, der von den Toten zurückgekehrt war, und daran konnte er sich einfach nicht gewöhnen, wahrscheinlich würde er das niemals tun. Noch nicht einmal jemand, der von einer schweren Krankheit wieder vollkommen genesen war, konnte nachempfinden, wie Jordan sich fühlte. Denn was er mitgemacht hatte, überstieg jede Krankheit. Er war gestorben und lebte wieder – dank Harry.
Was Jordan allerdings nicht wusste, was noch nicht einmal Harry bekannt war, war die Tatsache, dass er ihm noch etwas anderes zu verdanken hatte. Jordan vergaß nämlich, dass Harry in seinem Kopf gewesen war. Der Necroscope hatte sein Bewusstsein berührt – daran »herumgefingert«, wenn auch nur kurz – lang genug jedenfalls, um dort seine Abdrücke zu hinterlassen. Und es gab keine Möglichkeit, sie wieder auszulöschen.
Für das E-Dezernat – ganz bestimmt für die beiden ESPer, die Jordan in den Zug gefolgt waren, der eine ein Lokalisierer, der andere ein Telepath – nahmen diese Abdrücke die Gestalt eines verräterischen mentalen Nebelschleiers namens Gedankensmog an. Selbstverständlich konnten sie nicht allzu tief sondieren, weil Jordan ja selbst ein erstklassiger Telepath war und es merken würde. Tatsächlich war Gareth Scanlon, einer der beiden Männer, die ihn beschatteten, früher einmal Jordans Schüler gewesen. Er war von ihm gefördert worden, bis sein eigenes Talent entwickelt und völlig ausgereift war. Jordan hätte seine Gedanken (ganz zu schweigen von seinem Gesicht oder seiner Stimme) sofort erkannt. Deshalb hielten die beiden Abstand, stiegen in einen Waggon weit hinten im Zug, hinter dem Speisewagen, und während des ersten Teils ihrer Reise ließen sie die Hüte auf und versteckten sich hinter Zeitungen, die sie bereits zum vierten oder fünften Mal lasen.
Doch Jordan ging nicht ein einziges Mal in ihre Richtung und verschwendete keinen einzigen Gedanken an sie. Er gab sich damit zufrieden, einfach in seinem Schlafwagenabteil zu sitzen, dem Geklapper der Räder auf den Gleisen zu lauschen und die nächtliche Welt vor seinem Fenster vorüberrollen zu sehen. Und sich zu freuen, dass er wieder ein Teil dieser Welt war, ohne auch nur einmal innezuhalten, um sich zu fragen, wie lange noch.
Als der Zug etwas langsamer fuhr, um zwischen Alnwick und Morpeth ein Viadukt zu überqueren, horchte Scanlon plötzlich auf und schloss konzentriert, beinahe ängstlich die Augen. Jemand versuchte ihn zu erreichen. Die Gedanken waren jedoch klar, scharf umrissen und ausgesprochen menschlich, ohne jeden Anflug vampirischen Gedankensmogs. Es war Millicent Cleary aus der Zentrale in London, von wo aus sie, der zuständige Minister und der Dienst habende Beamte des E-Dezernats alles koordinierten und den Laden schmissen.
Sie fasste sich kurz: Gareth? Wie sieht es bei euch aus?
Scanlon lockerte seine Abschirmung aus statischem Rauschen und gab einen kurzen
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