TODESSAAT
bezeichnen oder was sie morgen sein mochte, heute Nacht war sie unschuldig.
Du kannst mir nicht helfen, Harry, versuchte Jordan, es ihm leichter zu machen. Diesmal nicht. Du bringst dich nur selbst in Gefahr – und Penny. Es ist schon okay, es ist okay. Ich habe zweimal gelebt, das reicht. Und zweimal zu sterben, war ... das war zu viel. Davon habe ich genug.
Noch im Möbius-Kontinuum kämpfte Harry mit seinem Zwiespalt, es zog ihn in zwei Richtungen zugleich. Er stöhnte auf vor Zorn und Entsetzen, als er die Gedanken des toten Jordan bewusst aus seinem Kopf verbannte. Später, später würde er vielleicht Zeit haben, ihm für die Warnung zu danken. Doch im Moment ...
... Bonnyrigg.
Er tauchte am Flussufer wieder auf, ein gutes Stück vom Haus entfernt, kam heraus in eine Dunkelheit, in der seine Wut blutrot leuchtete. Die Wut der Wamphyri! Das Ding in ihm hatte ihn jetzt vollkommen in der Gewalt. Das Vampir-Bewusstsein strömte aus dem Necroscopen heraus wie ein menschliches – un menschliches – Radar, tastete über das Haus, das in völliger Dunkelheit lag. Es war nur ... als Harry von hier weggegangen war, hatten alle Lichter gebrannt!
Das Gespür des Vampirs übertrug auch Harrys telepathische Kräfte. Im Haus befanden sich fünf Personen – fünf warme Wesen, gefüllt mit Blut – fünf kluge, denkende Kreaturen, und vier davon verfügten über verrückte, unheimliche Begabungen. Jedoch bei Weitem nicht so unheimlich wie Harrys Fähigkeiten. Sein übernatürlicher Sinn streifte kurz ihre Gedanken, allerdings vorsichtig, damit sie keinen Verdacht schöpften.
Zunächst Penny. Sie stand Todesängste aus, doch bis jetzt hatten sie ihr noch nichts getan. Dann Guy Teale, ein bislang noch nicht entwickelter Seher, der hin und wieder einen flüchtigen Blick in die Zukunft erhaschte, was, wie Harry sehr wohl wusste, ein schwer zu kontrollierendes, geradezu erbarmungsloses Talent war. Und Frank Robinson, ein Lokalisierer mit der Fähigkeit, andere ESPer zu erkennen, wenn er sie sah oder sie sich in unmittelbarer Nähe aufhielten (sein Verstand zuckte ein bisschen zurück, als Harry ihn berührte, doch nicht genug, um ihm zu verraten, dass der Necroscope da war; Robinsons Talent war bislang ebenfalls eher im Keim vorhanden). Doch dann ... ah, dann war da Ben Trask. Eine traurige Sache: Harry hatte gehofft, hier nicht auf alte Freunde zu treffen, doch Ben war da. Und schließlich ...
... Paxton!
Paxton, der Gedankenfloh, dieser früher unerreichbare Juckreiz, kaum weniger ein Vampir als Harry, nur dass er die pikanten Säfte aus den Köpfen seiner Mitmenschen, ihre ureigensten Gedanken, ihrem Blut vorzog. Paxton war in der Tat anders: Über jedes Pflichtbewusstsein hinaus ehrgeizig, übereifrig und heimtückisch wie die Armbrust, die er in ebendiesem Moment im Schlafzimmer des Necroscopen auf Penny Sanderson richtete. So schnell Harry sich auch zurückziehen mochte, war er doch nicht schnell genug, und Paxton wusste, dass er da war.
Der Telepath kniff auf der Stelle die Augen zusammen und rief mit bebender Stimme leise nach unten: »Er ist in der Nähe! Er kommt!«
In dem geräumigen Wohnzimmer des Hauses, das Harry hauptsächlich als Arbeitszimmer diente – von den Verandatüren aus überblickte man einen Garten, der in sanften Terrassen zu einer hohen Mauer und dem dahinter liegenden Flussufer hin abfiel – hörten Ben Trask und Guy Teale Paxtons gedämpfte Warnung und nahmen sie mit stummen Blicken und verkrampften, nervösen Bewegungen zur Kenntnis. Der Mond und die Sterne stellten ihre einzige Lichtquelle dar, womit sie an sich schon einen Fehler begingen. Ihre Augen hatten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen müssen, und noch jetzt sahen sie in dem düsteren Zwielicht, das in dem Raum herrschte, eher schlecht als recht. Dagegen war jeder einzelne Sinn des Necroscopen bereits darauf eingestellt. Die Nacht war sein Element.
Was für Trask und Teale galt, traf auch auf die Leute in der oberen Etage zu. Nur der Mondschein, der verstohlen durch die zurückgezogenen Gardinen von Harrys Schlafzimmerfenster fiel, gab ihnen Licht. Unten spürte Teale mit einem Mal Harrys Gegenwart, fasste Ben Trask am Ellenbogen und flüsterte heiser: »Paxton hat recht. Er ist in der Nähe. Mein Gott, auf einmal wird mir klar, was wir hier überhaupt tun! Ben, was machen wir, wenn er herkommt, in dieses Zimmer?«
»Du machst gar nichts«, erwiderte Trask schroff. »Du richtest diese Armbrust auf ihn und machst nichts. Du
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