TODESSAAT
kann man sich besser unterhalten. Aber versuche diesmal, ein bisschen entgegenkommender zu sein.«
Der Zigeuner hatte den Körperbau eines Stiers. Einen Augenblick lang verharrte er mit zu Schlitzen verengten Augen und ausgestreckten Armen in seiner halb geduckten Stellung. Doch dann überlegte er es sich anders. Harry war ein Wamphyri! Ihn angreifen? Ebenso gut könnte er sich von einem Felsen stürzen. Das wäre ein wesentlich schnellerer und weitaus weniger schmerzhafter Tod.
Diesmal allerdings, da das Gewehr ihn nicht länger ablenkte, las Harry seine Gedanken. So sanft wie möglich sagte er: »Es gibt keinen Grund zum Sterben, Lardis. Und du musst auch niemanden umbringen. Ich bin niemandes Vorhut. Wirst du mir jetzt vielleicht erzählen, was hier passiert ist? Was hier vor sich geht? Und zwar ohne Umschweife?«
Lardis holte tief Luft. »Vieles ist passiert«, brummte er. »Und es wird noch viel mehr geschehen. Das heißt, wenn sich die Vorahnungen des Herrn – seine Schicksalsträume – bewahrheiten.«
»Wo ist der Herr jetzt?«, wollte Harry wissen. Er blickte Lardis scharf an. »›Wolfsohn‹, so hast du ihn doch genannt? Und wo befindet sich seine Mutter?«
»Seine Mutter?« Lardis hob die schräg stehenden Augenbrauen, um sie gleich darauf wieder zu senken. »Ach so, seine Mutter! Deine Frau, die edle Brenda.«
»Sie war meine Frau«, nickte Harry. »Früher einmal.«
»Komm hier lang«, sagte Lardis.
Er führte den Necroscopen quer durch den Garten, und Harry konnte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie sehr sich alles verändert hatte. Offensichtlich hatte hier seit langem niemand mehr etwas getan. In den Teichen faulte das Wasser. Die Gewächshäuser standen leer. Ein eisiger Wind trieb dürres Strauchwerk vor sich her über den flachen, einst fruchtbaren Bergsattel. Etwas abseits, wo das ebene Gelände allmählich wieder anstieg, lag Brendas schlichter, aus Steinen aufgeschichteter Grabhügel.
Harry dachte voller Wehmut an sie und versuchte, sie mit seinen Gedanken zu erreichen. Es war eine rein instinktive Handlung ... nicht anders, als wenn er atmete oder sein Herz schlug. Doch schon im nächsten Augenblick zog er sich wieder zurück, denn ihm fiel ein, in welchem Zustand sie sich befunden hatte. Sie würde ihn nicht erkennen, und selbst wenn sie sich an ihn erinnerte, würde es sie nur unnötig verwirren. »Hatte sie einen sanften Tod?«, wollte er von Lardis wissen.
»Ja«, erwiderte der Zigeuner. »Sonnauf und ein leichter Regen, und alle Blumen haben geblüht. Eine gute Zeit zum Sterben.«
»Sie war doch nicht etwa krank?«
Lardis schüttelte den Kopf. »Nur schwach. Ihre Zeit war gekommen.«
Harry wandte sich ab. »Aber hier, allein ...«
»Sie war nicht allein!«, entgegnete Lardis. »Die Trogs haben sie geliebt. Meine Traveller auch. Und ihr Sohn. Er ist bis zuletzt bei ihr geblieben. Es hat ihm geholfen, sein eigenes Leiden in den Griff zu bekommen.«
»Sein Leiden? Du meinst – wenn er nicht mehr er selbst ist, nicht mehr bei klarem Verstand? Und du hast ihn Harry Wolfsohn genannt. Ich frage dich noch einmal: Wo ist der Herr des Gartens, Lardis Lidesci?«
Der Zigeuner sah ihn einen Augenblick lang durchdringend an, dann blickte er hoch zu den vom dahinziehenden Vollmond beschienenen Gipfeln. »Da oben«, sagte er schaudernd, »wo sonst? Gemeinsam mit der grauen Bruderschaft treibt er in den Wäldern auf den Bergkämmen sein Unwesen. Er ist wie ein König für sie. Wenn die Sonne scheint, räkelt er sich mit seiner Wölfin gemütlich in einer Höhle auf Sunside, oder er jagt Füchse weit weg im Westen. Von Zeit zu Zeit wird er mit seinem Rudel gesichtet ... Die Leute erkennen ihn, weil er anstelle von Vorderpfoten Hände hat, und an den roten Augen natürlich.«
Harry brauchte nicht weiter zu fragen, denn nun war ihm klar, was los war. Oft genug hatte er sich darüber Gedanken gemacht. Leise sagte er, beinahe wie zu sich selbst: »Nachdem der Herr ... sich verändert hatte und die Wamphyri besiegt waren und keine Gefahr mehr darstellten, gab es nichts mehr, was seine Leute hier hätte halten können, nichts, was sie zusammengehalten hätte. Vielleicht habt ihr sogar Angst vor ihm gehabt. Also seid ihr Traveller zurück nach Sunside gewandert, die Trogs sind wieder in ihre Höhlen zurückgekehrt, und den Garten ... wird es bald nicht mehr geben. Es sei denn, ich bringe ihn wieder in Ordnung.«
»Du?«
»Warum nicht? Schließlich habe ich einmal dafür
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