TODESSAAT
ausmachte. Der Dunst umwallte Harrys Knöchel wie etwas Schlafendes, das er in seinen Träumen störte. In dem Raum, der einst das Wohnzimmer gewesen war, saß der Herr des Gartens aufrecht an einem Tisch. Durch das offene Fenster fiel schräg das Mondlicht ein. Er trug ein langes Gewand, unter dessen Kapuze seine Augen wie zwei glühende, dreieckige Kohlen leuchteten. Ansonsten waren von ihm nur die langen, schmalen Hände zu sehen.
Harry nahm ihm gegenüber Platz.
»Ich hatte damit gerechnet, dass du eines Tages zurückkommen würdest«, knurrte der Herr des Gartens. Seine Stimme klang wie ein heiseres Bellen. »Von dem Augenblick an, als du aus dem Sphärentor geschossen kamst, habe ich gewusst, dass du es bist. Jemand, der so dreist und unverfroren an einem Ort wie diesem auftaucht, fürchtet entweder gar nichts, oder er hat eine Wahnsinnsangst. Oder es ist ihm so oder so egal.«
»Es war mir ziemlich egal«, sagte Harry. »Zu dem Zeitpunkt jedenfalls.«
»Machen wir nicht viele Worte«, sagte der Herr des Gartens. »Einst hatte ich alle Macht. Aber ich hatte auch einen Vampir in mir und glaubte, du würdest versuchen, ihn auszutreiben und zu töten, und mit ihm mich. Ich hatte Angst vor dem, was du eventuell tun könntest. Deshalb bin ich mit einem Gedanken in deinen Kopf eingedrungen und habe damit gleichsam wie mit einem Messer all deine geheimen Begabungen herausgeschnitten. Genau wie ich konntest du nach Belieben kommen und gehen – diese Bewegungsfreiheit habe ich dir genommen! Du konntest die Toten hören und hast mit ihnen gesprochen – genau wie ich. Also habe ich dich taub und stumm gemacht. Und als das alles erledigt war, habe ich dich zurück nach Hause verfrachtet und dich dort deinem Schicksal überlassen. Eigentlich gar nicht so schlimm – zumindest warst du in deiner eigenen Welt, unter ganz normalen Menschen.
Danach herrschte hier in dieser Welt eine Zeit lang Friede. Und sogar ich hatte, wenn auch in geringerem Ausmaß, meinen Seelenfrieden gefunden.
Aber ich hatte die Kraft der Sonne selbst eingesetzt, um die Wamphyri zu vernichten. Du und ich, gemeinsam haben wir sie mit dem gleißenden Feuer der Sonne verbrannt und ihre Festen zum Einsturz gebracht! Schön und gut, aber indem ich derart mit der Sonne herumgespielt habe, wurde ich auch selbst versengt. Nun ja, davon sollte ich mich ja bald wieder erholen. Danach sah es jedenfalls aus ...
Aber ich habe mich nicht erholt. Der Heilungsprozess geriet ins Stocken, er kehrte sich sogar gegen mich. Mein metamorphes Vampirfleisch und das menschliche Gewebe konnten sich nicht gleichzeitig regenerieren. Also drängte sich der Vampir in den Vordergrund. Was an mir noch menschlich war, wurde nach und nach abgestreift, weggefressen wie von einer Lepra oder einem bösartigen Krebs. Selbst mein Bewusstsein wurde ausradiert und großenteils ersetzt. Die Instinkte meines Vampirs wurden allmählich zu meinen eigenen. Denn der Vampir brauchte nun mal einen dynamischen, starken Wirt, in dem sein Ei geborgen war, bis er es weitergeben konnte. Und er »erinnerte« sich noch an Gestalt und Wesen seines ersten Wirtskörpers. Wie du weißt, Vater, stammt mein Ei ursprünglich von einem Wolf!
Ich wusste, dass mein Körper und mein Verstand aufgezehrt wurden, und mir war klar, dass ich dabei war, mich zurückzuentwickeln. Aber es gab immer noch jemanden, der meine Geschichte kannte – und zwar in Gänze, von dem Tag an, an dem ich gezeugt wurde – und mit dem ich reden konnte, wenn es mir schlecht ging. Meine Mutter natürlich! Und indem ich mit ihr sprach, bewahrte ich mir wenigstens eine letzte Gabe, nämlich mit den Toten zu reden. Was meine übrigen Talente angeht: Sie sind weg, vergessen. Es ist schon ein Witz: Ich habe dir deine Talente genommen und meine eigenen verloren! Wenn ich anfange, Dinge zu ... vergessen, pflege ich mit der Sanftmütigen zu sprechen, die unter den Steinen liegt. Sie ruft mir wieder ins Gedächtnis, wie es früher gewesen ist. Sie hat mich sogar an dich erinnert, als es das Einfachste gewesen wäre, dich zu vergessen.«
Harry wurde von seinen Gefühlen – den gigantischen Emotionen der Wamphyri – übermannt. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, ihm fehlten einfach die Worte. Innerhalb weniger Stunden – eigentlich einer winzigen Zeitspanne – hatte sich sein ganzes Leben für immer verändert. Doch das war nicht von Belang. Sein Schmerz bedeutete gar nichts, verglichen mit dem Leid, das andere zu ertragen hatten.
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