Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
verzeihen. Es hatte zu seinem Entschluss beigetragen, nichts zu unternehmen, als Þráinn in der Dunkelheit verschwunden war. Der Kapitän war schuld an Láras Tod. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
»Hast du keinen Durst?«, fragte Ægir.
Arna schüttelte den Kopf und drehte sich auf den Rücken. Sie stierte auf dieselbe Deckenplatte, die Ægir angestarrt hatte – vielleicht fand sie es genauso angenehm wie er, nichts als eine weiße Fläche vor Augen zu haben. Die weckte keine Erinnerungen. Am liebsten hätte er sich neben sie gelegt und es ihr nachgetan. Doch jetzt musste er erst mal über wichtige Dinge nachdenken, zum Beispiel, wie sie sich in der momentanen Situation am besten verhalten sollten. Als er Geräusche von oben hörte, zuckte er zusammen und schaute instinktiv an die Decke. Sie schienen vom selben Deck zu kommen, über das Þráinn geschleift worden war. Unter normalen Umständen hätte dieser harmlose Lärm ihn nicht beunruhigt, doch nun erinnerte er ihn daran, dass Halli noch da war und vermutlich die nächsten Schritte vorbereitete. Und die würden sich gegen ihn und die Mädchen richten.
»Was ist los, Papa?«, fragte Arna. Sie hatte sich zu ihm gedreht, und der Schreck in seinem Gesicht spiegelte sich in ihrem wider.
»Nichts, mein Schatz. Ich bin nur müde.«
»Glaubst du, dass das der böse Mann ist? Der, von dem Halli gesagt hat, dass er an Bord wäre?«
»Nein, es ist kein Fremder an Bord. Das ist bestimmt Halli«, antwortete Ægir. Er musste aufpassen, dass Arna und Bylgja nicht merkten, was mit Þráinn geschehen war. Wenn sie in Panik gerieten, würde alles noch viel, viel schwieriger. Und es war schon schwierig genug.
»Oder Þráinn«, fügte er hinzu.
Auf einmal bereute er es, die Pistole über Bord geworfen zu haben. Sonst hätte er Halli suchen und erschießen können. Die Vorstellung weckte keine Abscheu in ihm, im Gegenteil. Sie war so verlockend, dass er den Ablauf in Gedanken durchspielte, und als er die imaginären Kugeln in Hallis Rücken feuerte, schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Doch es verschwand schnell wieder, und Ægir zwang sich, die Tagträume zu unterdrücken. Er musste sich konzentrieren.
Bylgja bewegte sich und schlug die Augen auf. Sie wirkte noch schläfrig und blickte auf das aufgeschlagene Malbuch. Arna hielt ihrer Schwester die Brille hin. Daraufhin richtete sie sich auf, gähnte und setzte die Brille auf.
»Ich hab von Mama geträumt«, sagte sie.
»Ich nicht«, sagte Arna gekränkt, als hätte ihre Mutter dadurch ihre Schwester bevorzugt. »Ich hab gar nichts geträumt.«
Ægir versuchte, das Geplapper seiner Töchter zu ignorieren und sich auf die Geräusche von draußen zu konzentrieren. Halli musste sich irgendwann hinlegen, er hatte sich genauso wenig ausgeruht wie Ægir. Vielleicht hatte er geschlafen, als Ægir eingenickt war, aber ein kurzes Nickerchen reichte keineswegs, um die Müdigkeit zu überwinden. Wenn er wüsste, wann Halli vom Schlaf übermannt würde, könnte er aktiv werden und seine Töchter in Sicherheit bringen. Doch dafür bräuchte er eine Idee. Bisher war ihm nur das Rettungsboot eingefallen. Und vielleicht reichte das sogar. Schließlich hatte er keine Zeit, sich alle möglichen Szenarien auszumalen, sie zu analysieren und sich dann für das Richtige zu entscheiden. Abgesehen davon, dass es nicht eine einzig richtige Entscheidung gab.
In diesem Moment wurde die Tür zum Kabinentrakt geöffnet und fiel wieder ins Schloss. Ægir schnappte nach Luft und spürte, wie sein Herzschlag aussetzte. Gab es eine zweite Waffe an Bord, die Halli gefunden hatte? Dann wäre es sinnlos, die Flucht zu planen oder sich eine Verteidigungsstrategie zurechtzulegen.
»Wer ist das, Papa?«, flüsterte Arna ängstlich.
Sie schien zu merken, dass ihr Vater sich von der Person vor der Tür bedroht fühlte. Ægir legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Die Augen der Mädchen weiteten sich, und Bylgja presste die Hand auf den Mund, um keinen Schrei auszustoßen. Ægir hätte es ihr fast gleichgetan, denn als er das Ohr an die Tür legte, hörte er, wie die Schritte zu jeder einzelnen Tür gingen und die Klinken heruntergedrückt wurden. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss Adrenalin durch seine Adern, als er befürchtete, die Tür nicht abgeschlossen zu haben. Doch als neben ihm die Klinke nach unten schnellte, ging die Tür nicht auf. Sie starrten auf die Türklinke, die einen Moment stillstand und dann erneut, diesmal energischer
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