Todesschrei
Ich bin davon ausgegangen, dass sie es dir oder Susannah wenigstens erzählt hätte.«
Dass seine Mutter ihren Kindern etwas Derartiges verschwiegen hatte, war schwer zu akzeptieren gewesen. Brustkrebs. Sie war operiert worden, hatte eine Chemotherapie bekommen und kein einziges Wort gesagt. »Tja. Es ist seit einer ganzen Weile schon ziemlich schwierig mit uns.«
»Jedenfalls hat deine Mutter ein paar Termine sausenlassen, daher wurde man im Krankenhaus nervös und rief mich an. Ich habe mich umgehört und herausgefunden, dass deine Mutter bei Angie's die Dezembertermine storniert hat. Sie und dein Vater wollten angeblich nach Memphis, deine Großmutter besuchen.« »Aber da waren sie nicht.«
»Nein. Deine Großmutter hat mir gesagt, deine Mutter hätte Susannah besuchen wollen, aber als ich deine Schwester anrief, bekam ich zu hören, sie hätte eure Eltern seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Deswegen habe ich dich angerufen.«
»Und du hattest recht, Frank. Das klingt wirklich nicht gut«, sagte Daniel. »Wir gehen jetzt rein.« Er zerschmetterte mit dem Ellenbogen das kleine Fenster neben der Tür, griff hinein und entriegelte die Tür. Das Haus war still wie ein Grab und roch modrig.
Über die Schwelle zu treten war wie eine Reise in die Vergangenheit.
Im Geist sah Daniel seinen Vater am Fuß der Treppe stehen, die Fingerknöchel blutig und zerschrammt, seine Mutter weinend neben ihm. Susannah stand ein Stück abseits, ein stummes Flehen in den Augen, den Streit, den sie nicht verstand, doch endlich zu beenden. Für Susannah war es besser gewesen, nichts zu wissen, daher hatte er ihr auch nichts gesagt.
Er hatte dem Haus und seinen Eltern den Rücken gekehrt und nie die Absicht gehabt zurückzukommen. Sag niemals nie ... »Du gehst nach oben, Frank. Ich schaue mich hier und im Keller um.«
Daniels erster Eindruck bestätigte, dass seine Eltern verreist waren. Das Wasser war abgedreht und jedes Kabel ausgestöpselt. Seine Mutter hatte immer Angst, dass in ihrer Abwesenheit ein Feuer ausbrechen könnte. Er war durch das Erdgeschoss gegangen und stieg nun mit wild klopfendem Herzen in den Keller hinab. Visionen von all den Leichen, die er in seiner Zeit als Polizist gesehen hatte, schössen ihm unaufhörlich durch den Sinn. Aber es lag kein Geruch des Todes in der Luft, und unten war alles so ordentlich, wie er es in Erinnerung hatte. Er ging wieder hinauf, wo Frank an der Eingangstür auf ihn wartete.
»Sie haben viele Kleidungsstücke mitgenommen«, sagte Frank. »Und die Koffer sind weg.«
»Das ergibt für mich überhaupt keinen Sinn.« Daniel ging noch einmal in jedes Zimmer und blieb im Büro seines Vaters stehen. »Er war zwanzig Jahre lang Richter, Frank. Er hat sich garantiert Feinde gemacht.«
»Daran habe ich auch gedacht. Ich habe Wanda gebeten, die Akten seiner Fälle anzufordern und durchzusehen.« Überrascht schenkte Daniel dem älteren Mann ein müdes Lächeln. »Danke.«
Frank zuckte die Achseln. »Wanda wird sich über die Überstunden freuen. Komm, wir fahren in die Stadt, essen etwas und überlegen uns, was wir tun sollen.« »Moment noch. Lass mich kurz seinen Tisch durchsehen.«
Er zog am Griff einer Schublade und war überrascht, als sie sich leicht öffnen ließ. Sein Blick fiel auf einen Katalog über den Grand Canyon, und seine Kehle verengte sich. Seine Mutter hatte immer dorthin fahren wollen, doch sein Vater hatte nie Zeit dafür gehabt. Offenbar hatten sie es nun endlich geschafft.
Plötzlich traf ihn die Tatsache der Erkrankung seiner Mutter wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Endlich realisierte er, was sie zu verbergen versucht hatte.
Sie wird sterben.
Er räusperte sich. »Frank, sieh mal.« Er breitete die Broschüren auf den Schreibtisch aus.
»Grand Canyon, Lake Tahoe, Mount Rushmore.« Frank seufzte. »Tja, sieht aus, als ob dein Daddy deiner Mom endlich einen besonderen Wunsch erfüllt hat.« »Aber warum sagen sie dann niemandem, wohin sie wollen? Warum all diese Lügen?«
Frank drückte seine Schulter. »Vielleicht will deine Mutter einfach nicht, dass jemand von ihrer Krankheit erfährt. Carol hat ihren Stolz. Lass ihr ihre Würde. Komm, gehen wir essen.«
Mit schwerem Herzen setzte Daniel sich in Bewegung, doch ein Geräusch ließ ihn innehalten. »Was war das?« »Was?« Frank sah ihn fragend an. »Ich habe nichts gehört.«
Daniel lauschte und hörte es wieder. Ein hohes Schnarren.
»Sein Computer läuft.«
»Das kann nicht sein. Er ist
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