Todesschuss - Ein Nathan-McBride-Thriller (German Edition)
auch, dass man ihn ebenfalls nicht sah. Schritt für Schritt bewegte er sich langsam und mit Bedacht vorwärts, stets darauf achtend, wo er seinen Fuß hinsetzte. Ein Zweig, der mit lautem Knacken zerbrach, oder eine Stelle mit Treibsand konnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Außerdem hoffte er, keine Vögel aufzuscheuchen. Leonard konnte schließlich nur fünf, sechs Meter entfernt sein, ohne dass er ihn sah. Aber dafür würde Leonard ihn hören.
Aber im Augenblick hörte er etwas anderes.
Was er da wahrnahm, wärmte ihm die Seele – das typische Klopfgeräusch von Rotorblättern. Harv flog Grangeland zurück in die Zivilisation und damit in Sicherheit.
Gut gemacht, alter Kumpel.
»McBride, hörst du mich?«
Er ließ Bridgestone warten.
»McBride, bist du noch da?«
Noch ein bisschen länger …
»McBride?«
»Ich bin hier. Was du da eben hörst, ist Harv. Er fliegt gerade mit Grangeland weg. Jetzt sind nur noch wir beide und der Berglöwe übrig.«
»Super.«
»Freu dich nicht zu früh, Bridgestone. Die Sache hat nämlich einen Haken – die Zeit arbeitet gegen dich. In zwei Stunden schickt Harv mir Unterstützung und dann kannst du dir deine Millionen abschminken. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie leid mir das tut.«
»Wie du schon sagtest, McBride, wir haben zwei Stunden Zeit, um zu sehen, wer von uns beiden gewinnt.«
Nathan gähnte absichtlich laut. »Ich werde langsam müde und außerdem hab ich viel Blut verloren. Ich glaube, ich hau mich mal kurz aufs Ohr. Ein Auge halte ich dabei natürlich immer offen.«
»Warst du bei den Marines oder bei der Army?«
»Marines.«
»Scharfschütze?«
»Ja.«
»Wie viele Todesschüsse?«
»Neunundfünfzig, wenn man deine Brüder mitzählt. Du wirst Nummer sechzig. Eine schöne gerade Zahl. Bedeutet dir das Geld wirklich so viel, dass du dafür dein Leben wegwirfst? Ist Hamburger braten oder Umschläge füllen unter deiner Würde? Wer sagt denn, dass du nicht noch mal ganz von vorne anfangen und dir dein Geld mit ehrlicher Arbeit verdienen kannst?«
»Das liegt mir nicht.«
»Aber Sterben liegt dir?«
»Ich bin noch nicht tot, McBride. Ganz im Gegenteil.«
»Du wirst es aber bald sein, Bridgestone.« Nathan setzte seinen Marsch wieder fort. Nach etwa hundert Metern wurde das Gestrüpp dünner und er konnte den Südrand des Canyons sehen. Wahrscheinlich musste er noch zwei- oder dreihundert Meter weiter, um ein geeignetes Versteck zu finden.
Für diesen letzten Streckenabschnitt brauchte er fünfzehn Minuten. Durch die Lücken im Gestrüpp sah er zwischendurch immer wieder die Felsnadel. An einer Stelle musste er den Fluss verlassen und an der Canyonwand entlanggehen, um im Schutz des Gewächses zu bleiben. Etwas weiter gab es einen breiten Pflanzengürtel, in dessen Schutz er zu dem sandigen Flussbett zurückkehren konnte. Ab dort säumten größere Eichen und dichtes Gestrüpp auf mehreren Hundert Metern das Ufer. Perfekt. An dieser Stelle würde er finden, wonach er suchte. Langsam robbte er durch ein Labyrinth von Baumstämmen vorwärts und näherte sich dem Flussufer. Sein Arm schmerzte höllisch, aber er vermied es, einen Blick auf die Wunde zu werfen. Es würde ohnehin nichts bringen.
Die Baumkronen der Eichen weiter vorne am Flussufer schützten ihn vor Blicken von oben, aber nicht von unten. Nathan bezweifelte jedoch, dass Leonard in die Schlucht hinabsteigen und damit den Vorteil aufgeben würde, den ihm die höhere Lage bot. Als Nathan auf das Flussbett zuhielt, blickte er immer wieder zum Canyonrand empor und hielt nach potenziellen Heckenschützenverstecken Ausschau. Soweit er bisher gesehen hatte, gab es dort oben mindestens ein halbes Dutzend geeignete Stellen.
Er fragte sich, wie lange Leonard es aushalten würde, bevor er ans Aufgeben dachte. Langsam, aber sicher lief ihm die Zeit davon. Würde er unter diesen Umständen wirklich sein Leben für das Geld riskieren? Wenn Nathan erst einmal ein geeignetes Versteck mit Blick auf die Felsnadel gefunden hatte, würde er Leonard erschießen, sobald dieser sich auf weniger als fünfzig Meter näherte. Da konnte er genauso gut gleich Selbstmord begehen.
Etwa dreißig Meter vom Flussbett entfernt fand Nathan schließlich, wonach er gesucht hatte – eine mächtige, umgestürzte Eiche, die einer plötzlich heranbrausenden Flut zum Opfer gefallen war. Der freigelegte Wurzelballen bot ihm perfekte Deckung. Das mit Erdklumpen und Steinen aus dem Fluss durchsetzte
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