Todessommer: Thriller (Rebekka Holm-Reihe) (German Edition)
Bauch zu ihrem Auto.
NOVEMBER
Bo hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, hatte unbeweglich unter seiner dünnen Decke gelegen, während die Gedanken in seinem Kopf nicht zur Ruhe gekommen waren. Unter dem Regal hatte er ein altes Foto von sich entdeckt, er hatte es angestarrt, immer wieder, während er versucht hatte, sich sein damaliges Leben in Erinnerung zu rufen. In jungen Jahren hatte er davon geträumt, Automechaniker zu werden – denn er hatte Autos immer geliebt. Flüchtig erinnerte er sich an Mädchenkörper, spitze Brüste, weiche Kurven und vor allem an den Traum, einmal Ehemann und Vater zu werden. Das gerade beginnende Erwachsenenleben hatte vor ihm gelegen, verlockend und erschreckend zugleich.
Jetzt, fünfzehn Jahre später, lag er auf seiner Matratze, die direkt auf den Holzdielen lag. Er besaß nicht einmal ein ordentliches Bett. Das Leben hatte ihn im Stich gelassen, oder vielleicht hatte auch er das Leben im Stich gelassen. Tatsache war, dass nichts mehr übrig war. Steffen hatte sich von Anita getrennt und war ganz mit Ditte beschäftigt, einer neuen Frau, die er kennengelernt hatte, obwohl er mit dieser Vibs zusammenwohnte. Bo hörte so gut wie nie etwas von ihm, und wenn er sich selbst einmal dazu aufraffte, ihn anzurufen, hatte Steffen selten Zeit, mehr als ein paar Worte mit ihm zu wechseln, bevor er weiter musste.
Steffen hatte die Nacht bei Søren nicht ein einziges Mal erwähnt. War einfach davon ausgegangen, dass nichts nachkommen würde. Niemand hatte sie gesehen, sie hatten Handschuhe getragen, Bo hatte die Spuren beseitigt, sie hatten sich abgesichert. Steffen hatte recht behalten. Die Polizei hatte den Fall aufgrund mangelnder Beweise zu den Akten gelegt. Der selbstsichere Steffen. Bo hatte in der Zeitung von Søren Thomsen gelesen, in einem Artikel, in dem es um die mangelnde ambulante Versorgung ging, die die Stadt den Kranken zu bieten hatte, und das Foto von dem blassen, hirngeschädigten Søren hatte sich in Bos Erinnerung gegraben und festgesetzt, es marterte ihn Tag und Nacht. Er seufzte und zog sich die Decke bis unters Kinn.
Sofie war sein einziger Lichtblick gewesen. Es war so schön gewesen, wenn sie auf dem Sofa gesessen hatten und ihre Stimme das Zimmer ausgefüllt hatte. Er hatte ihr gerne zugehört, wenn sie von ihrem Tag erzählte, von den Freundinnen, der Schule und anderen Kleinigkeiten. Er war von ihren Besuchen nahezu abhängig gewesen, hatte ihr eine SMS geschickt, wenn zu viele Tage dazwischen lagen. Es war der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen, als sie sie beerdigt hatten. Der weiße Sarg war so kurz gewesen, doch die vielen bunten Blumen hatten geleuchtet. Sie stammten von nahen Freunden, entfernten Bekannten und auch ganz fremden Menschen, die an diesem Abschiedstag ihr Mitgefühl hatten bekunden wollen. Bo hatte in der ersten Reihe gesessen und um Beherrschung gekämpft. Die Aufmerksamkeit hatte sich auf Anita und Steffen gerichtet, die Eltern, ihn hatte der Pfarrer nicht angesehen. Bo hatte sie von allen am meisten geliebt. Sweet child o’mine. Sweet love of mine.
Bo blieb liegen, bis der Morgen graute. Er hatte einen Entschluss gefasst. Dann stand er auf, ging mit nackten Füßen ins Wohnzimmer und legte sein Lieblingslied auf, Sweet Child O’Mine . Er drehte die Lautstärke voll auf, jetzt musste er die Nachbarn nicht mehr fürchten. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu entscheiden, ob er es wert war, einen letzten Glimmstängel auf sich zu verschwenden. Er beschloss, ihn in vollen Zügen zu genießen, und öffnete die Balkontür. Die Kälte fegte ins Zimmer. Er zog an der Zigarette, blieb einen Augenblick in der Türöffnung stehen und sah über den Häuserblock, in dem er wohnte, über die identisch aussehenden Mietshäuser mit dem gemeinsamen Hof in der Mitte. Er war nie dort unten gewesen, fiel ihm plötzlich ein. Er hatte nie Lust dazu gehabt.
Er trat einen Schritt auf den Balkon hinaus, spürte den rauen Zement unter den nackten Füßen und dachte, dass man aus dem Balkon etwas Gemütliches hätte machen können, wenn man gewollt hätte. Jetzt war es zu spät, wie für so vieles andere. Er spähte über die Kante des Geländers, hinunter in den Hof. Der briefmarkengroße Rasen lag verlassen da wie gewöhnlich. Die Kinder mochten nicht auf der einsamen, halb verrosteten Schaukel schaukeln. Er sah, dass das Gras auf dem Platz mit Raureif überzogen war, und schauderte in seinem T-Shirt, die Kälte stach in die nackten Beine.
Über den
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