Todesspiel
bestätigen zu lassen, was er ihrem Kollegen erzählt hatte. Dem gegenüber hatte er behauptet, der Mann sei mittelgroß gewesen.
Esteban runzelte die Stirn. »Wollen Sie, dass ich sage, dass er groß war?«
»Ich möchte, dass Sie die Wahrheit sagen, Esteban.«
Sie nannte ihn bei seinem Namen, als sei er ein Kumpel. Als wäre es ganz einfach, die Wahrheit zu sagen, als wäre die Wahrheit ein einziges Zauberwort, das die Tür zur Freiheit öffnete, zu Trost und Träumen. Vor zwei Tagen hatte Esteban Paz in den Abendnachrichten die grausame Konsequenz seines Verhaltens vor Augen geführt bekommen. Überzeugt, dass die Polizei ihn aufstöbern würde, hatte er seine Familie an einen Ort in Sicherheit gebracht, den er nicht preisgab, egal, womit man ihm drohte. Anschließend hatte er sich selbst gestellt, um seine Frau und seine Kinder vor der Polizei zu schützen. Zur Freude der Polizisten, die sich gerade mit Fotos von ihm auf den Weg machen wollten, um ihn zu suchen, war er schnurstracks aufs nächste Revier marschiert.
»Wir haben ihn!«, hatten sie gerufen, als hätten sie ihn nach erfolgreicher Suche geschnappt.
Aus alldem schloss Christa, dass er kein Profi, sondern unschuldig war. Auf dem Überwachungsvideo des Reviers wirkte Esteban so verängstigt wie ein zum Tode Verurteilter, der zur Gaskammer geführt wird. Er bewegte sich steif und unbeholfen, als würden unsichtbare Hände ihn vorwärtsschieben, den Kopf gesenkt, als wollte er lieber nicht sehen, was vor ihm lag.
»Haben Sie Hunger, Esteban? Sie haben nicht mal die Hälfte von Ihrer Mahlzeit gegessen.«
Immer wieder vibrierte das Handy in Christas Hosentasche, als sei es eifersüchtig auf Esteban. Seit zwanzig Minuten versuchte irgendjemand, sie zu erreichen. Fünf Anrufe in zwanzig Minuten. Vielleicht war es ein Verwandter von Evans. Vielleicht war jemandem noch etwas Wichtiges eingefallen. Aber zuerst wollte sie noch eine Sache klären, die ihr an Estebans Geschichte nicht gefiel.
»Kommen wir noch mal auf den Akzent des Mannes zu sprechen«, sagte sie.
Esteban wollte gerade nach einem Bagel greifen, zog seine Hand jedoch wieder zurück. Er hatte sich so an die kulturelle Vielfalt in New York gewöhnt, dass er kein lateinamerikanisches Essen bestellt hatte. »Er hatte jedenfalls keinen Akzent wie ein Nordamerikaner.«
»Aha.«
»Er hat ein merkwürdiges Englisch gesprochen.« Er hielt sich die Nase zu, um den Akzent zu imitieren. »Irgendwie durch die Nase.«
»Sie haben eine gute Beobachtungsgabe.«
»So einen Akzent hatte ich noch nie gehört.«
»Sehr gut. Weiter.«
»In meinem Viertel wohnen viele Leute aus Ländern in Süd- und Mittelamerika. Außerdem hab ich mal mit ein paar Venezolanern zusammengearbeitet. Der Mann, der mich angesprochen hat, hatte keinen Akzent wie jemand, dessen Muttersprache Spanisch ist«, sagte er.
»Sprach er schlechtes Englisch?«
Esteban schüttelte den Kopf. Auf Christa wirkte er nicht besonders intelligent, aber aufrichtig. Es rührte sie, wie sehr er um seine Familie besorgt war. Sie waren beide von ihren Familien getrennt.
»Er kannte komplizierte Wörter. Aber der Akzent …«, sagte Esteban.
Na wunderbar. »Sie sagten, er hätte ausgesehen wie jemand aus dem Nahen Osten. Wie ein Araber …«
Esteban hörte auf zu kauen. Er errötete, und seine Aknenarben traten noch deutlicher hervor.
Verwundert hakte Christa nach: »Wenn Sie einen Akzent wie den seinen noch nie gehört haben, was hat Sie dann vermuten lassen, dass es sich um einen Araber handelte?«
»Er war dunkelhäutig«, antwortete Esteban zögernd.
»Aber viele Menschen sind dunkelhäutig und deswegen noch lange keine Araber. Sie zum Beispiel. War es vielleicht etwas, was er gesagt hat?«
Esteban betrachtete die Tischplatte. Er schluckte. »Vielleicht dachte der Schwarze«, sagte er, womit er Christas Kollegen meinte, der ihn zuerst vernommen hatte, »der Mann wäre Araber.«
Verdammter Mist, fluchte Christa insgeheim, ohne eine Miene zu verziehen.
»Nun, er ist ein kluger Mann«, sagte sie.
Esteban entspannte sich. »Ja, heute Nachmittag werden sie Leute mit verschiedenen Akzenten etwas zu mir auf Englisch sagen lassen. Wenn ich den Akzent wiedererkenne, kann ich vielleicht in New York bleiben.«
Der letzte Satz klang eher wie eine Frage. Er musterte Christa, um festzustellen, ob das Versprechen ehrlich gemeint war, ob er sich Hoffnungen machen konnte. Der arme Mann würde sich bis an sein Lebensende an der Nase herumführen
Weitere Kostenlose Bücher