Todesspiel
dir niemand die Tür eintreten«, sagte Tommy.
Die Journalisten reckten die Hände. Einer, der ziemlich ungepflegt aussah, fragte: »Was ist an dem Gerücht dran, dass Esteban Paz geflohen ist?«
»Absolut nichts«, antwortete Walsh steif.
Eine korpulente Frau mit einem Mikrofon in der Hand fragte: »Auf CBS wurde berichtet, dass es sich bei den Morden um einen von Südamerikanern ausgeführten Anschlag der El Kaida handelt.«
»Ich weiß nicht, woher Sie das haben«, sagte Walsh. »Aber ich möchte mich jetzt an die zahlreichen New Yorker wenden, die ohne gültige Dokumente in der Stadt leben, aber gern ihre Hilfe anbieten würden. Wenn Sie sich mit nützlichen Informationen bei uns melden, werden Sie nicht nur die Belohnung erhalten, sondern auch eine Greencard, ein erster Schritt auf dem Weg zur US-Staatsbürgerschaft.«
Rubens spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.
Überall in der Stadt saßen Menschen vor dem Fernseher, die das Phantombild, das sie bis vor einer Minute nicht einmal beachtet hatten, jetzt genau studierten und sich hoffnungsvoll fragten: Kenne ich diesen Mann? Vielleicht habe ich ihn ja schon mal gesehen, im Bus, im Supermarkt, in der Schule.
Das Bild füllte jetzt den ganzen Bildschirm aus. Rubens hatte sich soeben in einen Lotterieschein für die Erlangung der Staatsbürgerschaft, in den Hauptgewinn im Tierlotto verwandelt. Allein in Astoria lebten zwanzigtausend illegale Einwanderer, die gerade mit einem Streich zu Kollaborateuren gemacht worden waren. Von jetzt an würden sogar seine Mitbewohner, seine Kollegen bei der Gartenbaufirma, die Kellner in dem Restaurant, wo er gearbeitet hatte, das Phantombild im Kopf haben, wenn sie durch die Straßen gingen. Die Zeichnung wäre nun tagelang in sämtlichen amerikanischen und fremdsprachigen Zeitungen abgebildet.
Es reicht schon aus, wenn einer den Zusammenhang herstellt.
Rubens bekam Kopfschmerzen.
Tommy sagte: »Diese Zeichnung sieht meinem Vetter Demetrius in Albany ähnlicher als dir.«
»Dein Vetter hat eine Glatze und ist zweiundachtzig Jahre alt. Du hast ihn mir mal vorgestellt, erinnerst du dich?«
»Apropos Gesichter«, sagte Tommy, lehnte sich zurück und zeigte grinsend auf den Computerbildschirm. »Oder: Wenn man vom Teufel spricht …«
Als Rubens sich umdrehte, sah er einen der Männer von dem Foto aus Brasilien vor sich. Es bestand kein Zweifel. Er nahm das Foto aus der Tasche. Ihm blieb beinahe das Herz stehen. Auf dem Foto stand der dicke, gut gelaunte Mann mit zwei Tellern voller Fleisch auf der Nevada Ranch. Auf dem Bildschirm trug er eine Khakiuniform und stand zusammen mit nervös drein- blickenden US-Soldaten in einem Waldgebiet. In einiger Entfernung waren Hubschrauber zu sehen, und im Vordergrund stand ein Bradley-Panzer. Der Mann betrachtete nachdenklich einen Ölbohrturm.
»Jack Nestor, Vorstandsvorsitzender der Nestor- Gruppe, besucht nach einem Terroranschlag ein Ölfeld in Nigeria«, lautete die Schlagzeile.
»Steht in dem Artikel, warum er dort war?«
Tommy antwortete: »Sie schützen das Ölfeld.«
»Afrika interessiert mich nicht. Ich will wissen, was in Südamerika los ist. Gib mal ›Jack Nestor‹ – ›Amazonas‹ – ›Radar‹ ein.«
»Nichts. Falls er in Brasilien operiert, dann läuft das über eine Tochtergesellschaft«, sagte Tommy einen Augenblick später.
»Aber der Mann ist auf dem verdammten Foto aus Brasilien!«
Rubens fühlte sich erschöpft. Er hatte seit zwei Tagen kaum geschlafen.
Er musste etwas essen. Seit er Zeuge der Morde gewesen war, schmeckte ihm nichts mehr. Aber er musste fit bleiben. Mühsam würgte er das Hühnchen hinunter. Er spürte, wie ihm die Augen schwer wurden. Tommy gähnte. Rubens riss jäh die Augen auf. Er war eingenickt! Tommy schlief tief und fest, den Kopf auf den Armen. Rubens schloss wieder die Augen und nahm sich vor, Tommy in ein paar Minuten zu wecken.
Plötzlich riss ihn ein polterndes Geräusch aus dem Erdgeschoss aus dem Schlaf. Tageslicht fiel durch das Fenster. Tommy saß kerzengerade da, die Augen weit offen. Sie hörten, wie mehrere Personen die Treppe her
aufkamen. Rubens hatte es weder klingeln noch klopfen gehört. Er geriet in Panik.
Sie sind da! Sie haben mich gefunden! Das Phantombild!
In Brasilien hatte er zahllose Male erlebt, dass ein Haus gestürmt wurde. Aber da war er der Polizist gewesen, er hatte die Pistole in der Hand gehalten.
Tommy legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte: »Immer mit der Ruhe.« Als Rubens
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