Todesspirale: Roman (German Edition)
erwiderte Sasha. »Und dir? Ich habe dich vermisst.«
Sie unterhielten sich eine Weile über Gott und die Welt, erzählten sich gegenseitig, was passiert war, tauschten Klatsch aus über die Eislaufwelt. Sasha umklammerte den Hörer und sagte zögernd: »Ich, äh, wollte dir sagen, dass Lon hier ist. Er ist wieder frei.« Am anderen Ende herrschte kühles Schweigen, und sie beeilte sich, es zu unterbrechen. »Er ist am Vierzehnten entlassen worden, und ich habe ihm einen Job bei den Follies besorgt. Als Gruppenläufer, meine ich – er wird als Gruppenläufer auftreten.« Sie wusste, dass sie viel zu viel redete, aber sie war angespannt und hatte Angst vor seiner Reaktion.
Nicht ohne guten Grund. »Lonnie ist tot für mich«, entgegnete er, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel an der Endgültigkeit seiner Erklärung. »Ich habe dir das gesagt schon früher.«
»Ivan, bitte ...«
»Nein Sasha. Ich habe ihm geholfen bei dem Prozess, aber ich habe ihm gesagt, dass das waren das Ende.« Er schwieg einen Moment, und dann brach es aus ihm heraus: »Er hatte eine wunderbare Zukunft... und er hat sie weggeworfen. Er hat alles geopfert – einschließlich, beinahe, deine Zukunft – um Geld zu machen mit schmutzigen Drogen. Nein! Er nicht mehr für mich da sein. Wir von etwas anderem sprechen.«
Und das war’s. Sasha spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie hätte gar zu gern mit Ivan über Lonnie gesprochen; er war der Einzige auf der Welt, der wusste, wie es früher für sie beide war, der Einzige, der ihre widersprüchlichen Gefühle für ihren alten Freund verstehen konnte. Und besagte nicht ein altes Sprichwort, geteiltes Leid ist halbes Leid?
Aber Ivan, von dem Sasha heimlich glaubte, dass er von ähnlich zwiespältigen Gefühlen geplagt wurde, weigerte sich rundheraus, darüber zu diskutieren. Es war nichts Neues; sie sollte nicht so enttäuscht sein. Er hatte dieses Thema an dem Tag aus seinem Leben gestrichen, an dem Lon angeklagt wurde, und er war heute genauso wenig bereit, sich wieder damit auseinanderzusetzen, wie damals.
In gewisser Weise verstand sie sogar seine konsequente Haltung. Ivan stammte aus Europa und hatte einen strengen Ehrenkodex, und er hatte strenge Ansichten und einen starken Glauben. Aber das zu verstehen machte es nicht leichter, es auch zu akzeptieren. Es hätte einen unglaublichen Unterschied für sie gemacht, wenn er wenigstens bereit wäre, ihr zuzuhören, wenn sie ihm ihre eigenen konfusen Gefühle darlegen konnte. Seine frostige Weigerung, überhaupt zu diskutieren, bestrafte nicht nur Lonnie, sondern auch sie.
Sie spürte, wie er darauf wartete, dass sie das Thema wechselte, und sie wusste, dass die Unterhaltung beendet wäre, wenn sie es nicht täte. Aus dem Nichts überfiel sie eine abgrundtiefe Einsamkeit, und sie platzte heraus: »Ich vermisse Mama.«
Sie hatte nicht gewusst, dass sie das sagen wollte, aber plötzlich war das Gefühl des Verlustes überwältigend. Es war wie in den ersten Tagen nach dem Tod ihrer Mutter, und sie befürchtete, dass es beschämend offenkundig war und ihre Stimme sie verriet.
Ivans Stimme wurde sanfter: »Ich weiß, dass du das tust, Sashala. Sie war eine gute Frau.«
»Ivan, glaubst du...«, sie zögerte, aber dann stellte sie eine Frage, die ihr in letzter Zeit ziemlich häufig in den Sinn gekommen war, »... glaubst du, dass sie wusste, was los war bei den Mühlenarbeitern? Glaubst du, dass sie ihren Neid auf mich an meiner Mutter ausgelassen haben? Glaubst du, dass ich sie das selbst hätte fragen sollen, statt so ein Feigling zu sein und zu warten, bis es zu spät war, bis die Möglichkeit für immer vorbei war?«
»Nein«, antwortete er ohne Zögern. »Weißt du noch, als du die Silbermedaille gewonnen hast und die Medien Spruchbänder deiner Heimatstadt gezeigt haben mit der Aufschrift ›Wir lieben dich, Sasha Miller‹?«
Sie klang bitter. »Wie könnte ich jemals.« Sie erinnerte sich immer noch an den Schock, als ein Sportreporter ihr ein Mikrofon vors Gesicht gehalten und gefragt hatte, wie es sich anfühlte, die Unterstützung und die Liebe einer ganzen Stadt hinter sich zu haben.
Es hatte sich wie die schlimmste Scheinheiligkeit aller Zeiten angefühlt.
Sie wusste noch, wie sie in ihr Zimmer im olympischen Dorf zurückgegangen und mit zynischer Ungläubigkeit die Berichterstattung verfolgt hatte, wie Kells Crossings Mühlenarbeiter durch die Straßen marschierten mit Spruchbändern, die sich von einer Straßenseite bis
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