Todesspur
unterrichte Deutsch und Englisch. Olaf hatte ja die Achte übersprungen und kam neu dazu. Ich finde so etwas ja nicht so gut, weil die Schüler dann oft keinen Anschluss an die Klasse finden. Aber Olaf hat sich gut eingefügt, und der Altersunterschied war kaum spürbar. Er konnte sich gut behaupten.«
»Wie behaupten? Hat er sich geprügelt?«, hakt Fernando nach.
Die Lehrerin sieht ihn strafend an, vergisst für einen Moment ihren Kummer und sagt streng: »An unserer Schule wird sich nicht geprügelt. Ich meinte damit, dass er sich verbal durchsetzen konnte.«
»Gab es da bestimmte Kandidaten, gegen die er sich verbal durchsetzen musste?«, fragt Fernando unbeeindruckt.
»Nein. Das war nur so allgemein gesprochen. Olaf war bei den Mädchen sehr beliebt, deswegen wurde er manchmal aufgezogen. Kein Wunder, er war ja auch ein ausgesprochen hübscher Junge. Und er konnte sehr charmant sein.« Wieder stürzen Tränen aus ihren Augen, die sie mit einem Papiertaschentuch trocknet.
»Was heißt ›konnte‹? War er auch mal anders?«, erkundigt sich Jule.
Die Lehrerin zögert. »Ja, er war manchmal auch etwas mürrisch. Aber Erwachsenen gegenüber nicht, da vergriff er sich niemals im Ton. Er war sehr gut erzogen und wusste sich immer zu benehmen.«
»Anders als sein Bruder«, wirft Fernando ein. Frau Lier sieht sich um, aber außer ihnen ist niemand im Lehrerzimmer. Dennoch flüstert sie: »Ja, der Ruben … der war etwas schwierig. Aber im Kern nicht schlecht, nur eben … « Sie hält inne, scheint nach dem richtigen Wort zu suchen.
»Schwierig«, wiederholt Jule.
»Ja. Dabei sind die Eltern so nette Leute. Die Mutter ist sogar im Elternbeirat.«
Jule kommt wieder zum eigentlichen Thema zurück: »Ist Ihnen an Olaf in letzter Zeit etwas aufgefallen?«
Die Lehrerin schüttelt den Kopf. »Nein. Alles war wie immer, Olaf schrieb gute Noten, er beteiligte sich regelmäßig am Unterricht und zeigte Interesse und Engagement.«
»Ein wahrer Musterknabe also«, krönt Fernando den Lobgesang der Pädagogin. Prompt trifft ihn wieder ein tadelnder Blick.
»Herr Rodriguez, die Zeiten haben sich geändert – zumindest an dieser Schule. Die jungen Leute wissen heute ganz genau, was auf dem Spiel steht und dass man nur mit guten Zeugnissen eine Chance auf Studienplätze an erstklassigen Universitäten hat. Ordentliche Noten sind für unsere Oberstufenschüler keine Schande, sondern ein Muss. Das sind keine Versager, die ihr Leben im Internet verplempern, diese jungen Menschen haben frühzeitig realisiert, dass sie möglicherweise zur ersten Generation gehören werden, die es nicht automatisch besser haben wird als ihre Eltern.« Nach dieser Lektion wendet sich die Lehrerin wieder Jule zu: »Haben Sie schon einen Verdacht, wer dieses Verbrechen begangen haben könnte?«
Jule verneint: »Es ist ja erst ein paar Stunden her, aber wir arbeiten mit allen verfügbaren Kräften an dem Fall.« Sie macht Fernando ein Zeichen, und die beiden verabschieden sich.
»Halleluja«, stöhnt Fernando. »Noch zwei Minuten, und der alte Drachen hätte ihn heiliggesprochen.«
»Ich wette, so hat noch nie eine Lehrerin über dich geredet«, grinst Jule.
»Nein, wirklich nicht. Dieser Olaf muss ja ein Riesenschleimer gewesen sein.«
Bodo Völxen sitzt in der Stadtbahnlinie 1 . Er ist ohne Begleitung. Seinen Hund hat er mit der strikten Anweisung »keine Kekse!« bei Frau Cebulla gelassen. Die Zeit in der mit Schülern vollgestopften Bahn nutzt er, um sich von Jule Wedekin die Befragung von Olafs Freunden und der Lehrerin schildern zu lassen. Als sie zu Ende geredet hat, meint Völxen: »Dann fahrt jetzt nach Hainholz und seht euch dort mal gründlich um.« Danach ruft er Oda Kristensen an. »Ist er’s?«
»Ja, natürlich. Die Eltern haben ihn zweifelsfrei identifiziert, wie es so schön heißt. Danach wollten sie auch noch den Tatort sehen. Es war furchtbar! Das nächste Mal kannst du das machen«, verkündet Oda vorwurfsvoll. Sie hat die Döhrings zum Rechtsmedizinischen Institut der Medizinischen Hochschule Hannover begleitet und wartet nun vor deren Haus auf Bodo Völxen. »Mir ist ganz flau im Magen. Man sollte meinen, dass man sich mit der Zeit daran gewöhnt und abstumpft, aber das Gegenteil ist der Fall: Je älter ich werde, desto weniger kann ich mich abgrenzen.«
»Geht mir genauso, ich muss mich auch dauernd gegen den Gedanken wehren … He, pass doch auf, du Rüpel!« Ein Schüler, dem urplötzlich eingefallen war,
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