Todesspur
Einwohner betrachtet. »Seit der ganze Osten zur EU gehört, kommen die scharenweise, und zwar das ganze Jahr über, nicht nur wenn Messe ist! Auf dem Strich hörst du kaum noch ein deutsches Wort, nur noch Rumänisch, Bulgarisch, Polnisch. Die Hälfte von denen ist süchtig und macht’s für ’nen Zehner ohne Gummi, wie soll man sich da über Wasser halten?«
»Behalt die Kohle.«
Das sagt er meistens, und Stella weiß nicht, was sie mehr auf die Palme bringt, ihre momentane Pechsträhne oder seine Gönnerhaftigkeit.
»Warum fragst du dann überhaupt?«, erwidert sie übellaunig.
Morgens ist sie immer mieser Stimmung. Nach dem ersten Wodka wird das besser, deshalb stellt ihr Niko jetzt auch die Flasche und ein Glas hin. »Komm, nimm ’nen Schluck für’n Kreislauf.«
Stella legt das angebissene Marmeladenbrötchen weg und folgt dem Rat. »Kennt man den, den Toten?«
»Nein.«
»Wo hat man ihn denn gefunden?«
»An der Hüttenstraße, vor der Einfahrt zum Musikzentrum. Heute früh. Muss wohl in der Nacht passiert sein. Wahrscheinlich war’s ein Raubüberfall. Die schlagen dir ja heutzutage eiskalt den Schädel ein, nur um dir dein Handy zu klauen.«
»Wegen deinem Handy bestimmt nicht!«, zischt Stella, während sie unweigerlich an den Wagen denken muss, der sie auf ihrem nächtlichen Nachhauseweg mit Dreck bespritzt hat. Kam der nicht exakt von dort? Und hat der nicht ziemlich lange gebraucht, um zu wenden? Und wie, zum Teufel, war noch mal die Autonummer, die sie sich hatte merken wollen?
»Du solltest nachts nicht mehr allein in dieser Gegend rumlaufen«, dringt Nikos Stimme zu ihr durch.
Der hat gut reden. Ein Taxi ist ihr zu teuer, und die Straßenbahn fährt nur bis eins, außerdem gibt’s die auch nicht umsonst. Und beim nächsten Mal Schwarzfahren winkt der Knast, bei der Verfolgung solcher ›Straftaten‹ sind sie nämlich übereifrig in dieser Stadt. Früher, ja, da ist sie immer im Taxi nach Hause gefahren, aber nicht hierher, sondern in die List. Gute Gegend, andere Zeiten. Sie seufzt.
Niko setzt sich an den Tisch und säbelt eines der Brötchen in der Mitte durch. »Ist noch Kaffee da?«
Stella deutet mit dem Kinn auf die Maschine. In der Glaskanne dümpelt ein Rest vor sich hin.
»Ich mach lieber frischen.« Er steht wieder auf, schüttet den Inhalt der Glaskanne in die Spüle über das schmutzverkrustete Geschirr. »Heut’ ist aber mal Putzen angesagt«, murmelt er dabei vor sich hin.
»Sag mal, hast du noch diesen Kumpel mit dem komischen Namen bei der Kfz-Stelle sitzen?«, fragt Stella, deren Gedächtnis gerade auf Hochtouren arbeitet.
»Den Sepp-Dieter meinst du? Ja, ich denke schon, dass der noch da arbeitet, wieso?«
Stella kritzelt mit ungelenken Fingern ein paar Zahlen und Buchstaben auf den Rand der Kiez-Zeitschrift. »Kannst du für mich rausfinden, wem diese Karre gehört?«
Niko setzt die Kaffeemaschine in Gang. »Ich kann’s versuchen. Wieso?«
»Wieso, wieso! So halt.« Kann der Alte nicht einmal tun, was man verlangt, ohne einem ein Loch in den Bauch zu fragen?
Schon plustert sich Niko auf: »Hat wieder so ein Drecksack nicht bezahlt, so wie neulich? Sag ich nicht immer, verlang das Geld vorher? Mensch, du machst das doch nicht erst seit gestern!«
Stella wird nur ungern an den Vorfall erinnert, den Niko hier anspricht. Ihre Menschenkenntnis hatte sie total im Stich gelassen, der Typ wirkte grundsolide, schüchtern schon fast, sie hätte nie damit gerechnet, dass er sie nach vollendeter Arbeit ohne zu zahlen aus dem Auto wirft.
»War’s so? Ja?«
Stella nickt. »War nur ’n Blowjob, reg dich nicht auf.«
»Wo?«
»Hier, um die Ecke.« Sie deutet vage aus dem Fenster in Richtung Lidl -Parkplatz, den sie schon häufiger für ihre Zwecke in Anspruch genommen hat.
»Dem Typen werd ich die Hölle heißmachen!«, ereifert sich Niko, während Stella eine Zigarette aus der Schachtel klopft. »Krieg’s einfach nur raus, ja? Meine Angelegenheiten regle ich schon selbst.«
8
Isolde Lier ist Mitte fünfzig, von fülliger Gestalt, und der Topfschnitt ihres schwarz gefärbten Haares erinnert Jule an eine Playmobil-Figur. Sie hat Tränen in den Augen, als sie sagt: »Ich verstehe das nicht, Olaf war ein so guter Schüler und ein so angenehmer Junge …«
Angenehm. Also angepasst. Leider schützt das nicht vor Gewalt, würde Jule am liebsten antworten, aber sie fragt nur: »Sie sind seine Klassenlehrerin – seit wann?«
»Seit der neunten Klasse, ich
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